42: »Gefangen im Käfig eines Wimpernschlages«

Von Christina Rietz

Stell dir vor, das Weltall macht die Tür zu und du stehst draußen. Aus diesem kühnen Gedankenexperiment hat Thomas Lehr mit seinem Roman 42 ein ebenso kühnes Stück Prosa gemacht, gespickt mit den besten Elementen aus Science und Fiction.

Um 12 Uhr 47 und 42 Sekunden erlebt eine BesucherInnengruppe des Genfer Forschungszentrums CERN im Teilchenbeschleuniger DELPHI das Ende aller Tage, einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum. Die Zeit außerhalb des Teilchenbeschleunigers steht still und gefangen in der immergleichen Mittagshitze eines Augusttages erleben die siebzig »Chronifizierten« fünf Jahre in der »Unzeit.« Warum können die Mitglieder der BesucherInnengruppe weiter atmen, essen, schlafen, wenn doch alle Menschen um sie herum »narkotisiert, somnambulisiert, eingepökelt in den Aspik der Luft« erscheinen? Auf diese Fragen hält der Autor sowohl physikalische als auch philosophische Antworten bereit, nicht selten in erfrischender Verquickung. Allerdings wird auch viel quantenphysikalisches Geschütz aufgefahren: Schwarze und weiße Löcher tun sich auf, Quantenschaum blubbert und Lichtstrahlen überholen sich selbst im Protoplasma, sodass es manchmal anstrengend ist, diesen naturwissenschaftlichen Höhenflügen im Schachtelsatz zu folgen.

Doch alles Theoretisieren hilft den »Chronifizierten« nicht. Auf monatelangen Wanderungen ohne Mitmenschen, nur umgeben von den lebenden Toten der Standbild-Städte, verlieren einige Verstand und Moral und vergreifen sich an den Erstarrten. Vergewaltigungen, Morde und »Installationen« sind an der Tagesordnung, sodass ganze Städte wie heimgesucht zurück bleiben.

Für die gefrorene Welt hält Lehr stets neue Bilder bereit, die er in seinem realistischen Stil präsentiert. Allerdings geht irgendwann ein Ruck von drei kostbaren Sekunden durch das Standbild - aufgeschreckt streben die Chronifizierten um Erzähler Adrian Haffner zurück nach Genf, um an einem finalen Experiment teilzunehmen, das den vermeintlichen Dornröschenschlaf der Welt beenden soll. Sie versuchen die Frage zu klären, ob man als Opfer eines Zeitstillstands eher Dornröschen oder doch der Prinz ist und vor allem: in welchem Schloss, welcher Art von Wirklichkeit, man sich eigentlich befindet. Ob das Experiment gelingt und die Zeit weiterticken wird? Um es treffend mit des Autors eigenen Worten zu sagen: »Die Leine, die die Zeit uns lässt, ist auch der Strick, mit dem sie uns hängt.«

Thomas Lehr: 42, Aufbau-Verlag, Berlin 2005, 22,90 Euro.