Sieben Tage bin ich schon in Yogyakarta auf der indonesischen Insel Java. Es gibt kaum einen Tag, an dem mich nicht mindestens ein Stadtbewohner fragt, ob ich von dem schweren Erdbeben im Mai gehört habe. Mehr als 6000 Menschen starben bei dem Beben der Stufe 6,2. Die meisten von ihnen wurden unter ihren eigenen Häusern begraben. In Bantul, einer Ortschaft zirka zehn Kilometer südlich der Stadt, wurden etwa achtzig Prozent der Gebäude zerstört.
Anders als in Yogyakarta ist das Erdbeben bei uns in Europa schon fast in Vergessenheit geraten. Das Medieninteresse galt vor allem dem Wiederaufbau der Stadt. In den Medien waren oft nur Bilder aus dem Zentrum zu sehen, meist das zerstörte Saphire Hotel. In Yogyakarta scheint Geld zum Wiederaufbau vorhanden zu sein. Ich bin überrascht, wie wenig Spuren vom Erdbeben im Stadtzentrum zu sehen sind. Ab und zu ein Baugerüst aus Bambus, eine eingestürzte Wand in einem Hörsaal einer der vielen Universitäten. Das Saphire Hotel wird gerade wieder aufgebaut.
Aber wie sieht es jetzt in Bantul aus? Bantul ist eine arme Ortschaft. Durch Zufall lerne ich Jonathan Brown aus den USA kennen, der an der Universitas Gadjah Madah einen Indonesischkurs belegt. Von ihm erfahre ich, dass sich immer wieder Freiwillige aus dem In- und Ausland treffen, um beim Wegräumen des Schuttes mit anzupacken: »Ich war schon neunmal in Bantul, um verschiedenen Familien zu helfen. Der Gotong Royong-Spirit hier in Yogyakarta ist sehr stark.« Gotong Royong ist ein traditionelles javanisches Prinzip, bei dem es um gegenseitige Hilfe innerhalb der Gemeinschaft geht. Der Wiederaufbau nach dem Erdbeben ist dafür ein Paradebeispiel. Die Hilfe, die es in Bantul zurzeit gibt, kommt zu weiten Teilen aus der näheren Umgebung und ist durch diesen Geist motiviert. Ich begleite Jonathan bei seinem nächsten Besuch in Bantul, um mitzuhelfen und mir ein eigenes Bild von der Situation vier Monate nach dem Beben zu machen. Auf dem Weg vom Zentrum Yogyakartas nach Süden sind zunächst kaum Spuren vom Erdbeben zu sehen. Plötzlich wird die Straße rechts und links von immer mehr Schutt und vereinzelten Mauerresten gesäumt. Wir sind im Epizentrum des Erdbebengebietes. Etwa fünf Minuten später kommen Jonathan und ich an unserem Ziel an. Wir wollen im Dorf Pleret der Familie von Dwi Kuswama helfen, einem Arbeiter, der sein Haus erst drei Monate vor dem Beben fertig gebaut hatte. Seit etwa drei Monaten wohnen Dwi, seine Frau Sinta, ihr siebenjähriger Sohn und Sintas Schwester Ena gemeinsam in einer Bambushütte, die nur aus einem großen Raum mit Kochstelle, Schlafplatz und Toilette besteht. Davor waren sie in Zelten untergebracht. Doch in den Zelten war es am Tag zu heiß und in der Nacht zu kalt, so dass die Familie froh ist, mittlerweile in einem provisorischen Gebäude leben zu können. Die vier erinnern sich noch gut daran, wie sie minutenlang unter dem Gewicht ihres eigenen Daches begraben waren. »Wir lagen alle unter dem Schutt und kamen aus eigener Kraft nicht heraus«, erzählt Ena. »Irgendwann kamen Leute hier aus Pleret und haben uns raus geholfen. Jetzt haben wir bei jedem Krachen und jedem Wackeln Angst vor einem neuen Beben.« Das Trauma sitzt tief. Trotzdem hofft die Familie darauf, irgendwann ihr Haus wieder bewohnen zu können. Die meisten Familien in Bantul haben kaum die Möglichkeit, ihre Häuser aus eigener Kraft wieder aufzubauen. Es fehlt an Geld und an Zeit. Dwi beschreibt seine und die Situation der meisten Einwohner: »Die meisten von uns sind Arbeiter und helfen anderen Leuten beim Bau ihrer Häuser. Wenn es keinen gibt, der unsere Hilfe braucht, dann arbeiten wir auch nicht und bekommen keinen Lohn, mit dem wir unsere täglichen Ausgaben decken können.« Eigentlich hatte der stellvertretende Präsident Indonesiens, Jusuf Kalla, schon kurz nach dem Erdbeben umfangreiche finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau der Häuser zugesagt. Bis zu dreißig Millionen Rupiah - das sind etwa 2700 Euro - sollte es für jedes zerstörte Haus geben. Aber ob das Geld jemals kommen wird, ist unklar. Laut Dwi ist erst ein Bruchteil davon in seinem Dorf angekommen. »Das Geld muss noch auf die Familien aufgeteilt werden. Dann gibt es für jedes Haus etwa vier Millionen Rupiah (etwa 360 Euro), aber damit kann man noch kein Haus bauen.« Direkt nach dem Beben gab es schnelle medizinische Hilfe, Lebensmittel und Zelte von verschiedenen internationalen Organisationen und NGOs. Auch die indonesische Regierung engagierte sich in der Soforthilfe und machte unter anderem die Strom- und Wasserversorgung innerhalb einer Woche wieder funktionstüchtig. Aber danach ist die offizielle Hilfe immer mehr abgeebbt. Jonathan und ich räumen vier Stunden lang einen Gang in Dwis ehemaligem Haus frei. Intakte Ziegel legen wir zur Seite. Jeder Stein, der nicht ersetzt werden muss, spart Geld. Die Kosten für Baumaterial sind nach dem Beben enorm gestiegen. In den vier Stunden haben wir eine Fläche von zirka drei Quadratmetern freimachen können. »Damit haben wir mehr geschafft, als sie in einem Monat schaffen würden«, sagt Jonathan. Tatsächlich scheint dieses Meer von Ruinen und Schutt nur mit technischer Hilfe und finanzieller Unterstützung von außen zu bewältigen zu sein. Aber in Yogyakarta und in Bantul gibt es den starken Willen, wieder neu anzufangen. In der ganzen Stadt hängen Plakate mit Aufschriften wie »Kita Bangkit Bersama« (Wir stehen gemeinsam wieder auf), und auch Sintas Bericht über das Erbeben endet mit der Aussage: »Wir stehen auf aus der Trauer und dem Leid.«