Nelly Spörl sieht nicht aus wie die klischeehafte Jura-Studentin. Mit ihren braunen Locken, dem knallroten Nagellack und dem luftigen Sommerrock würde sie sich gut auf einem Rockfestival machen. Doch in dieser Juniwoche hat die 21-Jährige andere Pläne: In schwarzer Robe wird sie im Gerichtssaal des Kölner Verwaltungsgerichts stehen und einen Beklagten verteidigen.
Spörl gehört zu den Studierenden, die sich mit Scheine-Jagen und trockenen Vorlesungen nicht zufrieden geben. Darum hat sie sich für die Teilnahme am Moot Court »Gender & Diversity« beworben, den das Gleichstellungsbüro der Uni Köln in diesem Semester erstmalig ausgeschrieben hat. »Jura ist ansonsten sehr theoretisch«, findet die Viertsemesterin. Es ist das zweite Mal, dass sie bei einer solchen simulierten Gerichtsverhandlung mitmacht. »Da siehst du, wie du das, was du lernst, tatsächlich praktisch anwenden kannst.«
An vielen Universitäten in Deutschland hat der aus den USA stammende Moot Court (etwa: hypothetisches Gericht) Tradition. In einem fiktiven, aber oft wirklichkeitsnahen Rechtsstreit übernehmen Studierende die Rolle der Prozessvertretung für KlägerInnen und Beklagte. Im Gerichtssaal treten beide Parteien gegeneinander an und versuchen, die RichterInnen für ihren Standpunkt zu gewinnen.
Auch an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Köln gibt es seit einigen Jahren eine solche Simulation. Der neue Moot Court des Gleichstellungsbüros, der in diesem Semester zum ersten Mal stattfand, ist jedoch deutschlandweit einzigartig. »Es ist der erste Gender & Diversity Court in Deutschland«, sagt Projektleiterin Lea Junghans. »Und soweit ich weiß ist es auch der einzige, der interdisziplinär arbeitet und Sachverständige einbezieht.«
In dem erdachten Fall geht es um eine junge Muslima im Rechtsreferendariat, die wegen ihres Kopftuches nicht zum Dienst in der Staatsanwaltschaft zugelassen wird. »Wir hätten auch Ehrenmord oder Frauenquote als Thema wählen können«, sagt Junghans. »Das sind sehr relevante Themen, allerdings zum Teil sehr drastisch und schwierig zu verhandeln.« Den Fall der Muslima hat Junghans mit Hilfe von Originalfällen ausgearbeitet. Interdisziplinär ist der Moot Court, weil er neben Jura-Studierenden auch Studierende der Pädagogik einbezieht. Sie unterstützen als Sachverständige im Gerichtsprozess die Argumentation ihres Teams.
Anfang Mai trafen sich Nelly Spörl und die anderen TeilnehmerInnen zum ersten Mal. Am Anfang wollten alle auf der Seite der Klägerin stehen. Aber nachdem sie sich intensiver mit dem Sachverhalt beschäftigt hatten, kamen auch andere Perspektiven zum Vorschein. Spörl übernahm schließlich mit sieben anderen den unbeliebteren Part der Verteidung. »Natürlich gewinnt man mit der Zeit eine viel differenziertere Sicht auf den Fall«, sagt Spörl. »Egal, für welche Seite man argumentiert.« Danach greife dann der »psychologische Effekt«: Je mehr man sich mit einer Sache auseinandersetzt, desto mehr identifiziert man sich mit ihr.
Zwei Mal pro Woche traf sich Spörls Team in der folgenden Zeit, um das Verfahren vorzubereiten. Gemeinsam verfassten die Studierenden eine Klageerwiderungsschrift, erstellten ein Gutachten und probten die Plädoyers. »Wir haben ziemlich selbstständig gearbeitet«, sagt Spörl. Sie entwarf sogar gemeinsam mit einem Freund ein Firmenlogo für die provisorische Rechtsanwaltskanzlei. Für die juristische Argumentation griffen die angehenden JuristInnen und PädagogInnen auf Gesetzesbücher und Beispielfälle zurück, lasen aber auch aktuelle Studien. Insider-Tipps gab es von einer erfahrenen Rechtsanwältin.
Am entscheidenden Tag im Juni knallt die Sonne auf das Kölner Verwaltungsgericht am Appellhofplatz. Es ist der Tag der Verhandlung. In dem hellen Gerichtssaal summen aufgeregte Stimmen. Rund dreißig BesucherInnen haben auf den dunkelrot gepolsterten Stühlen gegenüber der Richterbank Platz genommen. Links der Bank haben sich Nelly Spörl und ihre MitstreiterInnen um ein Pult versammelt, rechts wartet das gegnerische Team darauf, mit der Anklage loszulegen. Zwei hauptberufliche Richter vom Düsseldorfer Verwaltungsgericht und ein Jurist von der Uni Köln treten als Richter auf. Zwei Dozentinnen der Uni mit Genderschwerpunkten sind die Schöffinnen, tragen also als Laien zur Urteilsfindung bei. Eine kurze Begrüßung, dann eröffnet der vorsitzende Richter die Verhandlung.
Fünfundzwanzig Minuten hat nun jede Seite Zeit, um Schöffinnen und Richter im Plädoyer zu überzeugen. Abwechselnd bauen sich die KlagevertreterInnen dafür am RednerInnenpult auf. Ihre Performance ist minutiös geplant, die Sätze perfekt komponiert, jede Überleitung sitzt - wohl auch ein Verdienst des Rhetorik-Coachings, mit dem sie sich vorbereitet haben. Wie die anderen Jura-Studierenden hat sich Nelly Spörl eine schwarze Robe über das Kleid gezogen. Noch kurz vor der Verhandlung war sie gar nicht nervös. Erst jetzt, wo die anderen zu reden beginnen, wird sie etwas unruhig. Dann sind die Plädoyers der Mitstudierenden vorbei, Spörl ist an der Reihe. Sie spricht frei und ohne Verhaspler, ihre Stimme ist fest, der Ton sachlich und überzeugt. Mal gestikuliert sie, mal stützt sie beide Hände auf das Pult. Ihre roten Nägel leuchten über der Robe.
Die Richter stellen derweil ihr Pokerface zur Schau. Später, als es an die freie Diskussion geht, ist dann auch mal ein Nicken zu vernehmen oder ein Schmunzeln. Spätestens hier wird klar, dass jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer einen eigenen Stil mitbringt, die eine angriffslustig mit funkelnden Augen, die anderen humorvoll oder philosophisch Foucault zitierend. Die Diskussion wird zum spannenden Schlagabtausch.
Nach mehr als einer Stunde ziehen sich die Richter zurück. Sie werden heute kein Sachurteil fällen. »Beurteilt wird das Auftreten vor Gericht«, sagt Organisatorin Junghans. »Wie die Studierenden sich präsentiert haben, wie kreativ sie waren.« Als der vorsitzende Richter schließlich die VerteidigerInnen zu SiegerInnen »um Nasenlänge« erklärt, grinsen Spörl und ihre TeamkollegInnen bescheiden. Die Geschlagenen nehmen es sportlich und applaudieren anerkennend. »Letzten Endes ist es natürlich ein Spiel«, resümiert Spörl. Und das lassen alle MitspielerInnen gemeinsam bei einem Kölsch ausklingen.