Integrations-Debatte, Islam-Diskussion, Sarrazin-Debakel: Die öffentliche Debatte darüber, wie Zugewanderte und ihre Nachkommen ihr Leben in Deutschland leben und zu leben haben, erreichte 2010 einen traurigen Höhepunkt. »Deutschland schafft sich ab«, postulierte Thilo Sarrazin und erwarb mit seinem populistischen Schreckensszenario Sympathien an den Stammtischen derer, die immer noch glauben, per Genealogie die Definitionshoheit darüber zu besitzen, was »Deutschsein« bedeutet. Zu einem Manifest der Vielen hat jetzt die Journalistin Hilal Sezgin die Stimmen derjenigen MitbürgerInnen versammelt, die manche der Diskutierenden allenfalls als »Ausnahmen« gelten lassen wollen: Angehörige einer deutschen intellektuellen Mittelschicht mit Migrationshintergrund, denen diese Zugehörigkeit zunehmend aberkannt wird. Die 29 kurzen Stücke analysieren, warnen, klagen an. Ihre Perspektive ist teils wissenschaftlich, teils persönlich.
Die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus etwa identifiziert eine Verschiebung im Diskurs. Statt ethnischer oder nationaler Abstammung problematisiert dieser zunehmend die Religionszugehörigkeit, genauer: die Zugehörigkeit zum Islam. Sezgin nennt diesen Prozess die »Muslimifizierung« von MigrantInnen. Durch die Ausgrenzung als »MuslimIn« werde ein neues Wir-Gefühl geschaffen, wo sich die so Bezeichneten zuvor in erster Linie als Deutsche begriffen. Spielhaus entlarvt zudem den Versuch der historisch falschen Konstruktion einer deutsch-europäischen Leitkultur, die den Islam ausschließt, als Ausdruck einer Krise des nationalen Selbstverständnisses, in der sich Deutschland zwischen deutscher und europäischer Einheit und Globalisierung befinde.
Fassungslosigkeit, Enttäuschung und Wut sprechen aus den Beiträgen. Es entsteht ein vielstimmiges Manifest als Bekenntnis zu Pluralität und der Achtung des Individuums als Grundpfeiler der Demokratie.
Glücklicherweise lassen sich diese politisch und sozial engagierten JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, unter ihnen Hatice Akyün, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu, nicht vertreiben oder wegintegrieren. Sie haben sich entschlossen, Deutschlands Zukunft heute zu gestalten.