Kein libanesischer Frühling

Im Zuge der arabischen Revolutionen gab es auch im Libanon Demonstrationen, die sich gegen das politische System richteten. AktivistInnen und ExpertInnen sehen jedoch kaum Chancen für einen Wandel zu einem säkularen System. Von Hanna-Lisa Hauge

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»Ash-shab yurid isqat an-nizam« - «Die Menschen wollen den Sturz des Regimes«. Dieser Slogan wurde weltbekannt, als ihn die protestierenden Massen vor etwas mehr als einem Jahr in Ägypten, Tunesien und anderen arabischen Ländern ausriefen. Auch im Libanon gab es im vergangenen Frühjahr Demonstrationen, auf denen die Menschen diese Worte wiederholten, jedoch mit einer Abwandlung. Auf den Straßen Beiruts riefen die DemonstrantInnen »Die Menschen wollen den Sturz des konfessionalistischen Regimes.« Während die Proteste in Ägypten, Tunesien und Libyen tatsächlich zum Sturz der Regime geführt haben, flauten die Demonstrationen im Libanon schnell wieder ab.

Demokratie mit Einschränkung

Der Libanon ist bereits seit seiner Unabhängigkeit von dem französischen Mandat von 1943 demokratisch, hat also zumindest nicht mit einer Diktatur zu kämpfen. Dennoch war die Politik des Libanon lange Zeit zu einem großen Maß vom Nachbarn Syrien bestimmt. Die so genannte Zedernrevolution 2005 führte dazu, dass die syrischen Truppen abzogen, doch auch heute noch übt das syrische Regime einen gewissen Einfluss auf den Libanon aus. So sind beispielsweise in den vergangenen Monaten syrische Oppositionelle in der libanesischen Hauptstadt Beirut gefasst worden.

Religion und Politik

Die Demonstrationen im vergangenen Frühling richten sich jedoch gegen die libanesische Spielart der Demokratie, den so genannten politischen Konfessionalismus. Diesem Prinzip entsprechend werden öffentliche Ämter nach der Religionszugehörigkeit vergeben. So ist beispielsweise der Staatspräsident immer ein maronitischer Christ, der Premierminister ein Sunnit und der Parlamentssprecher ein Schiit. Frauen gab es bisher nicht in den hohen politischen Ämtern, lediglich ein paar der Parlamentssitze sind von Frauen besetzt. ChristInnen und MuslimInnen erhalten im Parlament jeweils die Hälfte der Sitze, welche wiederum nach einem festen Verhältnis, dem sogenannten Proporz, unter den verschiedenen Konfessionen aufgeteilt werden.

Die Macht der Konfession

Ursprünglich wurde das Prinzip des Konfessionsproporzes eingeführt, um den Frieden zwischen den 18 verschiedenen Religionsgemeinschaften zu sichern, die das kleine Land bewohnen. De facto hat der Konfessionalismus jedoch die Spaltung der Gesellschaft anhand konfessioneller Linien zementiert, wie KritikerInnen argumentieren. Diese Spaltung zieht sich durch den gesamten Alltag. Was auch daran zu erkennen ist, dass die meisten BewohnerInnen Beiruts in Stadtteilen wohnen, die nach Religionen und Sekten getrennt sind. Die Teilung geht aber noch viel weiter. »Der Konfessionalismus hat eine angenehme und eine unangenehme Seite«, sagt Wolf-Hagen von Angern, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Orientalischen Seminar der Uni Köln. »Jeder landet durch die Geburt in einer Schublade. Darin läuft dann das berufliche und persönliche Leben ab.« Hat man Glück, so findet man innerhalb der eigenen religiösen Gruppe einen Partner oder eine Partnerin und eine Karriere. Möchte man jedoch über die Konfession hinweg heiraten oder bewirbt sich auf einen Job, der für Bewerber­Innen einer anderen Konfession »reserviert« ist, so stößt man schnell an die Grenzen. »Der Konfessionalismus verhindert damit gewisse Entwicklungen, im Guten wie im Schlechten«, sagt von Angern. Die Religionsgemeinschaften stellen ein soziales Netz und soziale Fürsorge, welche der libanesische Staat selbst nicht für seine BürgerInnen leistet. Das verhindere einerseits, dass es eine Entwicklung hin zu einer »Atomisierung« der Gesellschaft gibt, so von Angern. »Der Konfessionalismus verhindert aber auch die Entwicklung des Landes in anderer Hinsicht, da nicht danach ausgesucht wird, wer die Besten und Fähigsten sind.«

So viel Protest wie nie

Im Frühjahr vergangenen Jahres waren bis zu 20 000 Menschen bei Demonstrationen an mehreren Sonntagen in Beirut auf die Straße gegangen. Es waren so viele wie noch nie. Karolin Sengebusch, Mitarbeiterin am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Uni Marburg betont, dass der Protest nicht neu ist. Die Unzufriedenheit mit verschiedenen Aspekten des Konfessionalismus sei weit verbreitet. »Es gehört zum guten Ton, den Konfessionalismus zu kritisieren«, sagt Sengebusch. »Lippenbekenntnisse zu seiner Abschaffung sind bei Politikern an der Tagesordnung, freilich ohne im Detail konkrete Schritte und Alternativen zu planen.«

Zum Misserfolg der Demonstrationen hat diese politische Führungsschicht aktiv beigetragen, indem sie die Proteste für sich instrumentalisierte und somit die Glaubwürdigkeit der Forderung nach Säkularismus untergrub. Schließlich sind Politik und Konfession im Libanon stets miteinander verwoben. So solidarisierte sich beispielsweise der schiitische Parlamentssprecher der Amal Partei, Nabih Berri, mit den Protesten. »Die politischen Parteien sind in die Proteste eingestiegen und haben sie von Innen zerstört«, sagt Samir Farah, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Beirut. Zum politischen Stillstand tragen die politischen Führer einen großen Teil bei. Die meisten von ihnen waren in den Bürgerkrieg involviert, teilweise als Milizenführer, und stehen seit Jahrzehnten an der Spitze der politischen Strömungen. Sie profitieren also von dem gegenwärtigen System.

Kein schneller Wandel

Farah sieht keine Chance für eine säkulare Demokratie, so lange es das Wahlgesetz gibt, welches den Konfessionen eine bestimmte Prozentzahl an Parlamentssitzen garantiert. Dass sich daran etwas ändern kann, hält er für unwahrscheinlich. »Die meisten politischen Parteien sind glücklich mit dem Gesetz.« Auch von Angern sieht keine Chance für eine Änderung des Proporzsystems auf friedlichem Weg. »Nur zweimal in der Geschichte wurde der Proporz verändert, aber beide Male nur nach Kriegen.« Die libanesische Aktivistin und Film-Studentin Ghina ist nicht ganz so pessimistisch. Aber auch sie glaubt, dass es noch ein weiter Weg zu einem säkularen System ist. »Bislang versteht nur ein kleiner Teil der Gesellschaft wirklich, wie schlecht das System für das Land ist«, sagt sie. »Entweder sie sind blind, oder sie haben sich dazu entschieden, blind zu sein. Vielleicht haben sie auch die Hoffnung verloren.« Demonstrationen hält sie nicht für ein wirkungsvolles Mittel. Das war für sie der Grund, nicht mehr an den Protesten teilzunehmen und ihrem Engagement eine andere Richtung zu geben. »Nach ein oder zwei Malen realisierte ich, dass diese jungen Frauen und Männer auf eine Art und Weise kämpfen, die für den Libanon nicht richtig ist.« Die DemonstrantInnen hätten keine konkreten Pläne für eine Alternative und deshalb auch zu wenig Überzeugungskraft gehabt. Das sei auch ein Grund gewesen, warum die Demonstrationen nach ein paar Wochenenden von selbst aufgehört hätten. »Wir müssen erst ein Bewusstsein schaffen«, sagt Ghina. Eine Revolution, wie sie in anderen arabischen Ländern zur gleichen Zeit passierte, sei nicht der richtige Weg für den Libanon. Besonders die Leute, die den Bürgerkrieg miterlebt haben, seien noch nicht bereit, eine Revolution gegen diese politische Schicht zu starten. »Ich glaube an einen langsamen Wandel«, sagt Ghina.