Philipp betritt die Bahn der Linie 18 am Barbarossaplatz. Es ist ein angenehmer Tag, leicht bewölkt, nicht zu warm, nicht zu kalt. Die Bahn in Richtung Hauptbahnhof ist ansatzweise gefüllt. Als sich die Türen schließen beginnt Philipp mit seiner Arbeit: »Der neue Querkopf, möchten sie einen Querkopf kaufen?« Seine tiefe, kräftige Stimme begleitet ihn in Zimmerlautstärke durch den Waggon. »Die Wenigsten zeigen irgendeine Reaktion«, sagt er. »Meistens werde ich einfach ignoriert.« Auf dieser Fahrt verkauft Philipp keine Zeitung, aber er grämt sich nicht, denn der Arbeitstag des 52-Jährigen hat gerade erst begonnen. In den nächsten sechs Stunden wird er versuchen, den Querkopf in der Innenstadt unters Volk zu bringen.
Die »Obdachlosenzeitung«, die politisch korrekt Straßenzeitung heißt, fand in den frühen Neunzigerjahren ihren Weg aus Amerika nach Deutschland. Das Konzept ist einfach: Ein sozialer Träger stellt eine Zeitung zur Verfügung, an deren Verkauf die VerkäuferInnen mindestens 50 Prozent verdienen. Diese Hilfe zur Selbsthilfe soll nicht nur gegen die Armut helfen. Die Erfahrung, sich selbstständig und aus eigener Kraft etwas finanzielle Unabhängigkeit erarbeiten zu können, soll das Selbstwertgefühl der Betroffenen stärken. Es kann auch helfen, ihrem Leben wieder eine gewisse Struktur zu geben. Aber nicht nur obdachlose Menschen dürfen die Straßenzeitungen verkaufen. Alle Menschen, die von Armut betroffen sind, auch wenn sie zum Beispiel (noch) eine Wohnung haben, sollen diese Möglichkeit erhalten. Die Trägerverbände bieten deshalb neben der Straßenzeitung meist auch ambulante Betreuung an und unterstützen beim Kampf gegen drohenden Wohnungsverlust oder helfen mit dem Antragswust der Ämter.
Die erste Straßenzeitung Deutschlands, der Bank Express, wurde 1992 in Köln ins Leben gerufen und ist seit 2010 unter dem Namen Draussenseiter mit elf Ausgaben pro Jahr auf den Kölner Straßen erhältlich. Deutschlandweit gibt es etwa 40 verschiedene Straßenzeitungen, meist Magazine, die von professionellen JournalistInnen gestaltet werden. Die Inhalte sind sozial orientiert, umfassen aber auch aktuelle Themen verschiedener Art. Die Zeitung soll sich nicht nur über ihren sozialen Charakter, sondern auch über ihre Themen verkaufen.
Nicht alle Zeitungen werden von Profis gemacht. So auch der Querkopf: Dieses Projekt lädt alle dazu ein, nicht nur zu verkaufen, sondern auch mitzuschreiben und mitzugestalten. Die ZeitungsmacherInnen wollen in ihren Texten einen kritischen, von den allgemeinen Medieninhalten bewusst unabhängigen Blick auf die Welt werfen. »Die Straße mit ihrem tagtäglichen ruhelosen Treiben ist und bleibt für den Querkopf die wichtigste Quelle der Anregung. Hier gibt es konkrete Erfahrung in Hülle und Fülle«, heißt es in der Juniausgabe diesen Jahres.
Insgesamt hat sich das Konzept bewährt. Leider bietet es auch Angriffsflächen für Missbrauch: Zeitungen wie Streetworker, StraMax und Straßenträumer gerieten wegen intransparenter Geschäftsgebaren unter Kritik, einige wurden sogar verboten. 2010 zog der Express eine Verbindung von rumänischen QuerkopfverkäuferInnen zu einer »Bettelmafia«, welche horrende Gewinne einstreichen würde.
Davon will Leo nichts wissen. Der schüchterne Neunzehnjährige steht an einem verregneten Dienstag in einem Hauseingang am Rudolfplatz und wirkt eher als wollte er sich dort verstecken denn eine Zeitung verkaufen. Leo ist vor neun Monaten mit seinen Eltern und seinem Bruder nach Deutschland gekommen, doch die Jobsuche gestaltet sich schwieriger als erwartet. Seit acht Monaten verkaufen er und sein Bruder nun den Querkopf, das, sagt er, hält die Vier zumindest über Wasser.