Der Krieg der USA gegen Afghanistan dient nicht der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, sondern einer Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse in der Region. Diese These vertrat der Tübinger Politikwissenschaftler Tobias Pflüger bei einem Vortrag an der Kölner Universität. Wenn tatsächlich Osama bin Laden und seine Ausbildungslager Ziel der Angriffe seien, müssten die USA hauptsächlich ländliche Regionen bombardieren. Stattdessen würden größere Städte in allen Regionen Afghanistans bombardiert: Kabul, Kandahar, Dschalalabad, Farah und Masar-i-Scharif. Pflüger wies darauf hin, auch George W. Bush habe gesagt, Osama bin Laden sei »nicht Ziel der ersten Angriffswelle« gewesen.
Der Vortrag fand im Rahmen der Ringvorlesung Wissenschaft und Macht der Uniweiten Fachschaftenkonferenz statt. In dieser Veranstaltungsreihe gibt es seit zirka zwei Jahren Podiumsdiskussionen und Vorträge zu hauptsächlich wissenschaftskritischen Themen. Aus aktuellem Anlass war Pflüger zum Thema »Frieden durch Krieg« eingeladen. Der 36-jährige Politikwissenschaftler ist Mitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung und Redakteur der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden. Finanziert wurde die Veranstaltung vom Arbeitskreis Frieden Köln - Pax An!, der Fakultätsvertretung der Heilpädagogischen Fakultät und dem PH-AStA. Seit Juni verfügt die Fachschaftenkonferenz über keinen eigenen Haushalt mehr, da der amtierende AStA ihr sämtliche Gelder gesperrt hat.
Vor etwa 35 ZuhörerInnen bezeichnete Pflüger den bisherigen Kriegsverlauf als absolut typisch. Der Vergleich zu Jugoslawien liege auf der Hand. Als erstes Kriegsziel wurde in beiden Fällen definiert, die gegnerische Flugabwehr auszuschalten. Daraufhin folgte jeweils das Eingeständnis, dass dieses Ziel nicht so leicht zu erreichen sei, und die gegnerische Infrastruktur wurde ins Visier genommen. In dieser zweiten Phase würde auch immer die Zivilbevölkerung getroffen. Das beste Beispiel dafür sei der Einsatz von Streubomben. Diese werden vor allem eingesetzt um großflächige Ziele zu treffen und »können nur gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sein«, so Pflüger. Die jetzt vor sich gehende Verschiebung der Kriegsziele werde auch durch die Aussage von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld deutlich, der kürzlich sagte, dass bin Laden vermutlich nie gefasst werden könne.
Der Krieg sei jedoch nicht nur ein Krieg der Amerikaner. Auch wenn die Bundesrepublik noch nicht direkt an Einsätzen beteiligt ist, nutze sie die Situation dennoch, um eigene Interessen durchzusetzen. Dazu gehöre der zweite NATO-Einsatz in Mazedonien, der unter deutschem Kommando steht. Zudem rechnet Pflüger damit, dass ein Einsatz der Bundeswehr im Krieg gegen Afghanistan unmittelbar bevorsteht. Wie Pflüger aus Gesprächen mit SPD-Abgeordneten erfahren haben will, gehen die SozialdemokratInnen intern bereits davon aus, dass der Bundestag in der zweiten Novemberwoche einen Beschluss zu einer deutschen Kriegsbeteiligung fällen wird. Da die Diskussion um einen deutschen Einsatz von Schröder direkt mit der Vertrauensfrage verbunden werde, sei bei der Abstimmung mit einer breiten Mehrheit zu rechnen. Außerdem stünden Abgeordnete ohne starken Rückhalt in der Partei durch die zurzeit laufende Listenaufstellung für die Bundestagswahl zusätzlich unter Druck.
Für eine deutsche Beteiligung seien drei Optionen denkbar: der Einsatz von ABC-Spürpanzern vom Typ Fuchs, die Beteiligung mobiler Sanitätskräfte oder des Kommandos Spezialkräfte (KSK). Für einen Einsatz der in Calw stationierten Kommandosoldaten vom KSK spricht, dass nach Informationen von Pflüger von 450 einsatzfähigen Soldaten schon 200 nicht mehr in der Kaserne seien.
Ob sich der Krieg gegen den Terror auf andere Staaten ausweiten wird, hängt nach der Einschätzung von Pflüger davon ab, wer sich in der US-amerikanischen Administration durchsetze. Hardliner Paul Wolfowitz, stellvertretender US-Verteidigungsminister, habe bereits angedroht, dass ganze Staaten »ausgelöscht« werden würden, während Außenminister Colin Powell schon im zweiten Golfkrieg eine eher besonnene Rolle gespielt habe.
Nicht zu unterschätzen sei zudem die Rolle der amerikanischen Friedensbewegung. Diese sei stärker, als die hiesigen Berichterstattung nahe lege. Sie verfüge aber über wenig Zugang zu den Medien.