Und wieder hat Deutschland seine Meinung des Jahres gefunden: Nachdem im letzten Sommer ein anständiger Antifaschist sich an den anderen reihte, die Nation lichterkettenbildend auf die Straße ging und Jürgen Rüttgers mit seiner »Kinder statt Inder«-Kampagne ganz zu Recht schlechte Presse erhielt, bis ihm schließlich einfiel, er habe ja eigentlich nichts dergleichen je behauptet, hat der Kanzler auch in diesem Jahr die Nation geschlossen hinter sich. In uneingeschränkter Solidarität steht sie da, bereit zur bedingungslosen Unterstützung jedweder Pläne des amerikanischen Präsidenten, Seit' an Seit' mit den USA, »unseren Freunden in Amerika«. Mag Bush sich ausdenken was er will, Schröder ist dabei und mit ihm das ganze Volk.
Wer dazu öffentlich das Falsche sagt, der gerät unter den schlimmen Verdacht des Verrats an der Zivilisation. Diese natürlich muss sich wehren, den Zweifler in die Schranken weisen, dem Lästerer den Mund verbieten - so geschah's zumindest Ulrich Wickert, dem Vorzeigemoderator der Tagesthemen. Herr Wickert, bekannt dafür, auch schon einmal eine unorthodoxe Meinung zu vertreten, hatte sich herausgenommen, eine Kolumne zu schreiben. Ausgerechnet er, der »Anchorman des deutschen Fernsehens« zitiert dort Arundhati Roy, eine der wichtigsten Schriftstellerinnen Indiens, mit dem Satz »Osama bin Laden ist das amerikanische Familiengeheimnis, der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten.« Wickert ging sogar noch weiter im schändlichen Ausscheren aus dem nationalen Konsens, indem er kommentierte: »Bush ist kein Mörder und Terrorist. Aber die Denkstrukturen sind die gleichen«. Die Empörung schlug Wogen, PolitikerInnen forderten Wickerts Absetzung, die Bild-Zeitung hätte ein »TV-Verbot für Wickert« gern gesehen. Erst nach öffentlicher Selbstkasteiung, Entschuldigungen an George Bush, den »Führer der freien Welt« (Wickert) und dem hoch und heilig gegebenen Versprechen, keine Kolumnen mehr zu schreiben, erbarmten sich die Chefs des Senders, rügten den entgleisten Moderator und beließen ihn auf seinem Platz.
Von soviel Glück kann man indes nicht bei jedem sprechen, der leichtfertig das internationale Ansehen Deutschlands aufs Spiel setzt: Der Siegener Lehrer Bernhard Nolz hatte gewagt, was hierzulande offenbar nur Verrückte tun - öffentlich hatte er in einer Rede nicht nur die Anschläge von New York verurteilt, sondern hatte sich auch gegen den Krieg gewendet, die SchülerInnen zu Zivilcourage und politischem Handeln in so subversiven Vereinigungen wie amnesty international aufgefordert (nachzulesen unter www.zfk-siegen.de). Rektor und Schulamt tobten, die örtliche Presse hetzte auf unterstem Niveau, Eltern und SchülerInnen distanzierten sich vom Verräter an der nationalen Betroffenheit. Die Siegener Zeitung legte dem Lehrer in den Mund, er habe »vor rund 3000 TeilnehmerInnen die USA attackiert und die jungen Männer und deren Freunde unter anderem dazu aufgerufen, den Wehrdienst zu verweigern.« Was sich hier - mit Sicherheit beabsichtigt - nach einem gesetzeswidrigen Aufruf zur Desertation anhört, war der schlichte Hinweis auf die Möglichkeit zur Kriegsdienstverweigerung, vulgo: auf den Zivildienst. Herr Nolz ist nicht Herr Wickert, er ist seitdem vom Dienst suspendiert.
Was bleibt? Die Gefahr, sich als im öffentlichen Leben stehender Mensch nachhaltig die Zukunft zu verbauen, wenn man nicht einstimmen mag in den Chor der Kanzlerknaben. Aber die ÜbeltäterInnen sind auch selber schuld - hätten ja auch einfach den Mund halten können.
Dagmar Abresch