»Varus, gib mir meine Legionen zurück« soll Augustus nach der Niederlage seines Feldherren gegen den Cherusker Arminius im Jahr 9 n.u.Z. ausgerufen haben. Arminius, so die Legende weiter, soll mit seinem Sieg den Plänen Roms in Germanien einen Riegel vorgeschoben haben. Sehr viel später, nämlich 1875, kam er dann erneut zu Ehren: Als Hermann wurde ihm am vermeintlichen Ort der Schlacht ein Denkmal gesetzt. Mit dessen Einweihung beginnt das Buch Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung des Historikers Edgar Wolfrum. Das Kaiserreich sei hierdurch mit »einem Stein gewordenen Gründungsmythos« ausgestattet worden, urteilt Wolfrum.
Der reißerische Titel täuscht leider etwas über den Inhalt des Buches hinweg. Die Konstruktion von Geschichtspolitik, »Geschichte als Waffe« eben, wird nur kurz in der Einleitung angesprochen. Wolfrum betont hier, dass der Titel sich als »roter Faden« durch das Buch ziehe. Eine theoretisch ausführlichere Konzeption von Geschichtspolitik zu Beginn wäre jedoch sehr hilfreich. So ist der/die LeserIn auf das Zusammenstückeln aus den einzelnen Kapiteln angewiesen. Ein schwieriges Unterfangen, da die Kapitel eher deskriptiven Charakter haben.
Die Beschäftigung mit Geschichte oder besser mit Vergangenheit ist natürlich keine auf das Kaiserreich beschränkte Erscheinung. Das geplante Holocaust-Denkmal in Berlin und die Debatten um die so genannte Wehrmachtsausstellung beziehungsweise um die Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen sind nur ein paar Beispiele aus den zurückliegenden Jahren. Die Liste ließe sich zum Beispiel um die Goldhagen-Debatte oder den HistorikerInnenstreit Mitte der Achtzigerjahre erweitern.
Das Ziel von Geschichtspolitik ist das Erringen der Deutungshoheit über die Vergangenheit. Diese wiederum kann dann wahlweise zur Legitimierung oder Delegitimierung gegenwärtiger oder zukünftiger Politiken herangezogen werden. Unter diesen Gesichtspunkten bietet das Buch von Wolfrum mit der üblichen Einteilung in Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich und so genannter Zweistaatlichkeit nach 1945 einen ersten Überblick über den Umgang mit Vergangenheit und über dessen Instrumentalisierung. Während jedoch die Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik sehr knapp abgehandelt wird, nimmt der Nationalsozialismus und besonders die Geschichtspolitik in der Nachkriegszeit breiteren Raum ein. Bewusst offen gehalten ist der letzte Abschnitt über die »Zukunft der Vergangenheit«.
Mitte der Dreißigerjahre verabschiedeten sich die NationalsozialistInnen vom aus dem Kaiserreich übernommenen Nationalmythos, der Hitler in eine Linie mit Hermann, Friedrich I. Barbarossa, Luther, Friedrich dem Großen und Bismarck gesetzt hatte. Das Ziel dieser Kontinuitätslinie, argumentiert Wolfrum, sei die Wiedergewinnung nationaler Größe - symbolisiert durch den Nationalsozialismus - nach einer Phase des Niederganges gewesen. Ende der Dreißigerjahre hatten diese Vorbilder ausgedient. An ihre Stelle trat die ausschließliche Fixierung auf Hitler. »Die Nationalsozialisten wollten damit auch verhindern, daß sich neben dem Führer-Mythos eine konkurrierende Größe aufbaute«, urteilt Wolfrum. Zudem hätten sich Friedrich der Große und Bismarck nicht mehr mit dem »totalen Krieg« und dem Genozid in Einklang bringen lassen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in der BRD und in der DDR unterschiedliche Konzeptionen von Geschichtswissenschaften auf die Vergangenheit übertragen. Auch Wolfrum sieht diese Divergenz, reduziert sie allerdings auf einen schmalen Ausschnitt. Der grundsätzliche Unterschied zwischen der westlichen Wissenschaftstradition und der DDR-Historiographie habe »in der Kombination von marxistisch-leninistischem Deutungsmonopol sowie der Formel Einheit von Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit, d.h. ihrer gegenseitigen Durchdringung« gestanden, urteilt er. Der unterschiedliche Umgang mit dem Nationalsozialismus stand im Mittelpunkt der Beschäftigung mit Vergangenheit. Während in der BRD der Antitotalitarismus quasi zur Staatsreligion erhoben wurde, wurde in der DDR der Antifaschismus zum Dogma erkoren: Nur die DDR habe die faschistische Diktatur hinter sich gelassen, während in der BRD eine bewusst gesteuerte Kontinuität vorgeherrscht habe.
Seit der so genannten Wiedervereinigung erfolgt durch die Eliten der alten Bundesrepublik eine bewusste Delegitimierung der DDR-Vergangenheit. Wolfrum spricht von einer »Sieger-Besiegten-Syndrom« und verweist in diesem Zusammenhang auf den Umgang der »westdeutschen« Medien mit dem Überwachungssystem der Stasi. Die Erinnerung auf der einen Seite der ehemaligen Mauer sei hierdurch flächenmäßig entwertet worden, so Wolfrum.
Das Buch von Wolfrum bietet einen ersten Einstieg in das Thema Geschichtspolitik. An einigen Stellen fällt es jedoch zu knapp aus. Auch fehlt ein theoretischer Einstieg fast völlig. Lesenswert ist es jedoch allemal.
Edgar Wolfrum: Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, 15,23 Euro.