Am 4. Dezember 2001 wurden die Ergebnisse der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) veröffentlicht. In 32 Staaten war bei insgesamt 180000 SchülerInnen im Alter von 15 Jahren die Lesekompetenz geprüft worden. Deutschland landete in der von der OECD durchgeführten Studie in allen Bereichen im letzten Drittel.
Unmittelbar nach der Präsentation der Studie setzte eine öffentliche Diskussion über die Ergebnisse ein. PISA stelle der Bildung in Deutschland ein katastrophales Zeugnis aus, so der Tenor in der Presse und bei PolitikerInnen. Bei der Ursachenforschung wurden dann jedoch schnell unterschiedliche Meinungen sichtbar.
Die pädagogische Ausbildung der LehrerInnen - besonders für GrundschullehrerInnen - müsse verbessert werden, war eine Reaktion. Im Verlauf des Studiums seien mehr und auch früher Praktika nötig, urteilte beispielsweise die Süddeutsche Zeitung. Verstärkt werden müssten praxisbezogene Themen, so die Zeitung weiter, während die Bildungsideale des 19. Jahrhunderts ausgemustert werden könnten.
Für Hans-Olaf Henkel, den ehemaligen Vorsitzenden des Bundes Deutscher Industrieller, ist hingegen der hohe Anteil ausländischer SchülerInnen für das schlechte Abschneiden verantwortlich. Er forderte eine Herabsetzung des Nachzugsalters für MigrantInnenkinder. Hierdurch werde die Integration ausländischer SchülerInnen und auch die Vermittlung der deutschen Sprache erleichtert, betont Henkel. Der bayrische Ministerpräsident und designierte Kanzlerkandidat der Unionsparteien, Edmund Stoiber (CSU), leitete aus der Studie die Forderung nach einem Einwanderungsstopp ab. »Deutschland«, so Stoiber, sei »an einer Grenze angelangt, Ausländer in dieser Größenordnung zu integrieren.«
Im Sinne Henkels hat die nordrhein-westfälische Landesregierung auf die Studie reagiert. Seit dem 1. Januar werden 16000 MigrantInnenkinder vor der Einschulung ein halbes Jahr in den Deutschunterricht geschickt. »Das Land stellte sich dem Sprachproblem, bevor es konservative Politiker für sich reklamieren konnten«, urteilt die taz über das nordrhein-westfälische Förderungsprogramm.
Alle diese Meinungen haben eines gemeinsam: Sie vernachlässigen weitgehend die an deutschen Schulen stattfindende soziale Selektion, die unter anderem auf das dreigliedrige Schulsystem zurückzuführen ist. Dieses beruhe auf Voraussetzungen aus der Kaiserzeit und spiegele auch das Gesellschaftssystem wider, schreibt die Tageszeitung junge Welt. »Es reproduziert sich selbst, und damit die soziale Schichtung«, betont die Zeitung.
BefürworterInnen des derzeitigen Schulsystems begründen die in den meisten Bundesländern schon nach der vierten Klasse erfolgende Einteilung der SchülerInnen in Haupt- und RealschülerInnen sowie GymnasiastInnen mit angeblich effektiveren Lernleistungen. Dieser Einschätzung widersprechen jedoch die Ergebnisse der PISA-Studie, schneiden doch auch SchülerInnen der so genannten Spitzengruppe im internationalen Vergleich nur mittelmäßig ab. Auch in dieser Kategorie stehen Länder an der Spitze, die über ein integratives Gesamtschulsystem verfügen, so zum Beispiel Finnland. Dort gibt es zunächst eine neunjährige Pflichtschule für alle SchülerInnen, die bezeichnenderweise völlig ohne Schulnoten auskommt. Erst danach teilt sich das Schulsystem in Gymnasium und berufsbildende Schulen.
Laut Annette Schavan (CDU), der Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz (KMK), ist die Orientierung an der Gesamtschule jedoch »nicht der Ansatz für Veränderungen.« Die KMK beschloss vielmehr auf einer Krisensitzung am 5. Dezember 2001 sieben Grundsätze, die unter anderem die Einrichtung von Ganztagsschulen, die Verbesserung der Sprachkompetenz im vorschulischen Bereich und Maßnahmen zur Verbesserung der Grundschulbildung fordern. Zwar könnte durch derartige Maßnahmen das Abschneiden bei der nächsten Studie verbessert werden, schließt die junge Welt, die »Ursachen des sozialen Ungleichgewichts« wären hiervon allerdings nicht betroffen.