Miriam Municio ist Vorsitzende der spanischen Schüler- und Studentengewerkschaft Sindicato de Estudiantes (SE). Mit ihr sprachen Ricardo Tintorero und Tim Neumann über die Proteste und ihre Perspektiven. Das Interview erschien zuerst in der Tageszeitung junge Welt vom 3. Januar 2002.
In den letzten Wochen gab es in Spanien landesweit massive Streiks und Demonstrationen der SchülerInnen und StudentInnen. Was waren die Hintergründe?
Municio:Auslöser waren Pläne der konservativen Regierung Aznar, die auf massive Verschlechterungen in den Hochschulen, in der Oberstufe wie auch in den Berufsschulen hinauslaufen. Mit diesen Gesetzen drohen eine Privatisierung der Hochschulen durch die Hintertür, eine deutliche Erhöhung der Studiengebühren und der Abbau demokratischer Rechte der Studierenden.
Und als Sindicato de Estudiantes haben Sie ja bereits einige Erfahrung im Organisieren von Massenprotesten sammeln können.
Municio:Unsere Organisation entstand im heißen Winter 1986/87. Damals konnten wir die sozialistische Regierung Gonzalez zu wichtigen Zugeständnissen zwingen. 1991 organisierten wir Massenproteste gegen den Golfkrieg.
Und wie lief die Bewegung im Herbst 2001 an?
Municio:Mühsam. Im Sommer - die Regierungspläne waren bereits bekannt - sprachen wir andere Organisationen der Studierenden an und schlugen gemeinsame Aktionen im September vor. Wir trafen auf viel Skepsis und Pessimismus. Aber wir ließen uns nicht beirren und riefen für den 25. Oktober zu einem eintägigen Schulstreik auf.
Wie war das Echo auf diesen Aufruf?
Municio:Positiv. Wir zählten 75000 streikende Schülerinnen und Schüler und landesweit 75 Demos. In Madrid, Barcelona, Sevilla und Valencia waren auch viele Leute aus den Unis dabei.
Die SE versteht sich als Gewerkschaft. Wie ist Ihr Verhältnis zu den großen Arbeitergewerkschaften?
Municio:Wir waren von Anfang an um Aktionseinheit mit den großen Klassengewerkschaften Comisiones Obreras (CCOO) und UGT bemüht, um dem Kampf im Bildungsbereich eine breitere Basis zu geben. Schließlich geht es ja auch um Bildungschancen für Arbeiterkinder. Für den 7. November hatten beide Gewerkschaftszentralen die Beschäftigten der Hochschulen zum Streik aufgerufen. An diesem Tag demonstrierten 200000 Hochschulangestellte, Lehrkräfte, Schüler und Studierende gemeinsam in 50 verschiedenen Städten. Am 14. November demonstrierten landesweit 300000 Schülerinnen, Schüler und Studierende, in Barcelona waren es am Vortag bereits 100000 gewesen.
Und war damit die Aktionseinheit hergestellt?
Municio:Nach dem 7. November stieß unsere Forderung nach einem gemeinsamen Generalstreik im gesamten Bildungswesen bei der Spitze von UGT und CCOO auf taube Ohren. Aber die Basis machte Druck. In Santiago, Malaga und Sevilla traten Dozenten - viele mit Zeitverträgen - in den Streik. Auch die in der Sozialistischen Partei organisierten Hochschullehrer begehrten jetzt auf, weil die konservative Gesetzesvorlage ihre Mitbestimmungsrechte einschränkt. So kam es am 1. Dezember zum »Marsch auf Madrid«. CCOO und UGT organisierten gemeinsam mit uns 550 Busse aus allen Teilen des Landes. Um 12 Uhr mittags marschierten 300000 Schülerinnen, Schüler und Studierende sowie Lehrkräfte und Universitätsangestellte, aber auch andere Gewerkschafter durch Madrid und legten die Stadtmitte lahm. Dies war die größte Bildungsdemo in der spanischen Geschichte.
Und welche Folgen hat jetzt dieser Marsch auf Madrid?
Municio:Auch bürgerliche Zeitungen geben zu, dass die Mehrheit der Bevölkerung mit der Protestbewegung sympathisiert. Hunderttausende Jugendliche haben sich jetzt zum erstenmal engagiert und Erfahrungen gesammelt. Wenn die Regierung stur bleibt, wird sie im neuen Jahr wieder mit einer starken Bewegung rechnen müssen. Aber die Gewerkschaftsführer scheuen immer noch vor einem echten landesweiten Generalstreik gegen die Regierung der Partido Popular zurück.
Weitere Infos und Kontakt im Netz unter www.sindicatodeestudiantes.org oder telefonisch unter (0611)9406969.