Die Massenproteste in Argentinien sind längst wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, dennoch gehen sie weiter. Mehr noch, es ist eine neue Form der sozialen Organisation entstanden, die den Menschen bei ihrem täglichen Kampf ums Überleben hilft. TrägerInnen der Bewegung sind die Armen und Arbeitslosen, die den Kollaps der argentinischen Wirtschaft seit mehr als zehn Jahren ausbaden müssen. Kristallisationspunkt ist nicht mehr die Arbeit sondern das Viertel. Die gewerkschaftliche Organisation weicht einer territorialen Organisierung.
Nachdem Präsident Fernando de la Rua am 19. Dezember seine Botschaft an die Bevölkerung damit beendet hatte, den Ausnahmezustand auszurufen, gingen um 11 Uhr nachts Hunderttausende ArgentinierInnen auf die Straße. Und sie taten das völlig unerwartet und selbstständig; auf die harte Entscheidung der Regierung antworteten sie mit Geschrei und einer Fiesta, indem sie die Straßen und Plätze besetzten.
Vor der Tür des Hauses von Domingo Cavallo, dem zurückgetretenen Wirtschaftsminister, versammelten sich um Mitternacht bis zu 4000 Menschen. Ganze Familien mit Kindern, Trommeln, Mundharmonikas; sie sangen, lachten und feierten. Man sah nur argentinische Fahnen. Einmal mehr dokumentierte die Form des Protests seinen Inhalt: Sie verletzten den Ausnahmezustand, und sie zeigten, dass sie keine Angst hatten, und sie taten dies, indem sie den öffentlichen Raum besetzten, feierten und tanzten.
Man kann sich fragen und sicher taten das viele, was es in der Nacht des Mittwoch zu feiern gab angesichts dessen, dass das Land in seiner schlimmsten Krise seit Jahrzehnten steckt. Eine Krise, die auf den ersten Blick ohne Ausweg ist, obwohl die Regierung jetzt nicht weniger verspricht, als die Aufhebung der Restriktionen für Bankeinlagen. Und mehr: Wissen die ArgentinierInnen, die da protestieren, plündern und rebellieren nicht, dass eine mögliche Lösung ein neuer und noch schlimmerer Genozid sein könnte? Und trotzdem feiern sie.
Ohne Zweifel ist dies aber das Übliche. Volksaufstände sind, im Gegensatz zu dem Bild, das uns die Herrschenden immer vermittelt haben, in der Regel gekennzeichnet durch Fröhlichkeit und die Freude zusammenzusein, zu hoffen und die Bereiche wieder zu erobern, aus denen die Menschen vertrieben worden sind. Trotz der Toten: es waren etwa zwanzig am späten Mittwoch. Viele sehen keinen Unterschied darin, in der individuellen Einsamkeit zu sterben oder auf der Straße erschossen zu werden, ihr Schicksal mit dem anderer verbindend. 55 Kinder sterben in Argentinien jeden Monat aus »vermeidbaren Gründen«, zwei pro Tag, wie humanitäre Organisationen vermelden.
Neue Formen des sozialen Protests
Die soziale Kampfbereitschaft der argentinischen Bevölkerung ist heute höher als in der Periode von 1969 bis 1976 [Anm. der Red.: Die Phase der sozialen Kämpfe bis zur Errichtung der Militärdiktatur]. Die Formen des Protests verdeutlichen die Tiefe der ökonomischen und sozialen, aber auch der politischen und kulturellen Veränderungen, die sich im Volk abgespielt haben.
Der Wandel hat sich in den Neunzigerjahren abgespielt, als die Deindustrialisierung Massen von neuen Armen produzierte, die das Heer der immer schon Armen und der Randgruppen weiter auffüllten. Alle AnalytikerInnen stimmen darin überein, dass sich Mitte der Neunzigerjahre ein Wandel in der Form der sozialen Aktion abzeichnete.
Das erste Anzeichen war die Revolte vom 16. und 17. Dezember 1993 in Santiago del Estero. Aus Geldmangel beschloss die Provinzregierung, die Gehälter der Staatsangestellten um fünfzig Prozent zu kürzen und die Zahlung der September- und Oktobergehälter auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Die Antwort der Bevölkerung war ein Santiagazo: Sie schlug die Ordnungskräfte in die Flucht, zerstörte die Gebäude der Exekutive, Legislative und Judikative, überfiel und plünderte die Häuser der führenden PolitikerInnen und GewerkschafterInnen ohne Rücksicht auf deren politische Richtung. Die Stadt war in den Händen der DemonstrantInnen. Es gab nur eine minimale Organisation, sie war fast inexistent. Keine gewerkschaftliche oder politische Organisation steuerte die Ereignisse.
1997 gab es den ersten Aufstand in Buenos Aires, in Florencio Varela. Er war ein voller Erfolg, der Staat zahlte Unterstützung. Der Forscher und Historiker Nicolas Carrera zählte zwischen dem Santiagazo und dem Oktober 1999 685 Blockaden: Fast 25 Prozent in der Hauptstadt, 14 Prozent in Santa Fe, der Provinz mit der höchsten Arbeitslosigkeit, der Rest in den Provinzen des Nordens, des Zentrums und des Südens. Etwa 8 Prozent fanden im Großraum Buenos Aires statt.
Nach der Revolte von Florencio Varela weitete sich die Mobilisierung aus und erfasste immer mehr Sektoren des ArbeiterInnengürtels von Buenos Aires. Wie schon bei den Protesten dreißig Jahre zuvor, begannen die Mobilisierungen in den Provinzhauptstädten und griffen langsam auf den brisantesten Bereich, den ArbeiterInnengürtel der Hauptstadt über, wo die Chefs des Gewerkschaftsapparats der CGT den Ton angeben und ihre Befehle mit eiserner Hand durchsetzen.
Das Jahr 2001 war das explosivste überhaupt und markierte einen riesigen Schritt vorwärts in der Organisation der Arbeitslosen. Im Mai ereignete sich die Revolte von La Matanza, die zwei Wochen dauerte und 7500 Arbeitsplätze und Unterstützung für 6000 Familien durchsetzte. Im Juni gab es einen Aufstand in General Mosconi, Tausende versperrten die Straße; der Aufstand wurde unterdrückt, es gab Tote und Dutzende von Verletzten.
Am 24. Juli fand in der Kirche von San Justo, in der Provinz von Buenos Aires, die erste nationale Versammlung der Volksorganisationen und der Arbeitslosen statt, mehr als 2000 Menschen nahmen an ihr teil. Dort wurde ein Aktionsplan beschlossen, in fünfzig Städten für jeweils 24, 48 und 72 Stunden über eine Zeitraum von drei Wochen hinweg Barrikaden zu errichten. Die Mobilisierung wurde immer stärker, in der zweiten Augustwoche blockierten über 100000 Menschen 300 Straßen.
Am 4. September fand in La Matanza die zweite nationale Versammlung statt; sie beschloss einen neuen Kampfplan, der in einem 36-stündigen Generalstreik gipfelte. Aus dieser Dynamik heraus und angesichts der immer offensichtlicheren Unfähigkeit der Regierung, den freien Fall der Wirtschaft zu stoppen, gründete sich die Nationale Front gegen die Armut, an der die wichtigsten Volksorganisationen des Landes beteiligt sind. Die erste Maßnahme der Front war die Initiierung einer Volksbefragung zwischen dem 14. und 17. Dezember.
Im Rahmen der argentinischen Dauerkrise, deren Beginn wir auf 1989 ansetzen können, haben die verarmten Alten, die neuen Erwerbslosen und die neuen Armen neue Überlebensstrategien entwickelt. Auf informelle Arbeit, auf Handel und Dienstleistungen angewiesen, versuchen sie, aus der Armut etwas zu machen, was mehr oder weniger gangbar ist und ihnen ihre Würde lässt. Viele der neuen Armen der Neunzigerjahre sind langjährige IndustriearbeiterInnen, viele von ihnen gewerkschaftlich organisiert mit einer sozialen und politischen Erfahrung und auch einer langjährigen Organisationserfahrung.
In Rosario waren diese Sektoren des Volkes so gut organisiert, dass jemand, dem etwas fehlte, spätestens am nächsten Tag einen Tauschpartner bekam. Es wurden sehr effiziente Hilfsnetze gegründet, um die Essenversorgung sicherzustellen. In anderen Orten, wie La Matanza und Solano, teilten diejenigen, die einen Job im Rahmen der so genannten Gemeindearbeit bekommen hatten, das Einkommen mit ihren Nachbarn oder der Organisation, der sie angehörten; mit dem Geld wurden Gemeinschaftsprojekte finanziert, die der Sicherung des Überlebens dienten.
In Moreno leben nicht weniger als 200000 Menschen von der Arbeit im informellen Sektor, sie sammeln und verkaufen, außerhalb der Steuergewalt des Staates.
Das Ende der Einsamkeit
Cavallos Maßnahmen von Anfang Dezember lösten in der gesamten Gesellschaft ein Erdbeben aus. Die Begrenzung der Geldabhebungen von der Bank traf in erster Linie die Mittelklasse, die bis zu diesem Moment an den sozialen Protesten kaum teilgenommen hatte. Aber für die Ärmsten bedeutete sie die Zerstörung ihrer Überlebensnetze, die sie geduldig in einem Jahrzehnt wachsender Arbeitslosigkeit aufgebaut hatten. Das war der Anfang vom Ende. Das Ende wurde ausgelöst - durch eine Volksbefragung. Die Front hatte geplant, die argentinische Gesellschaft zu Fragen des Einkommens und der Unterstützung der Erwerbslosen zu mobilisieren - sie schlug ein »Bürgergehalt« vor. Damit ist ein Mindesteinkommen gemeint, das eine Person zum Menschen, nicht zum Ausgestoßenen macht. Die Volksbefragung war eine informelle Veranstaltung und hatte keinen verbindlichen Charakter, organisiert wurde sie von den sozialen Organisationen.
Es wurden 17000 Tische aufgestellt, an denen man seine Stimme abgeben konnte, und man erwartete mehr als eine Million TeilnehmerInnen. Einige Tage vorher setzten Plünderungen von Geschäften ein, zunächst in den Provinzen und in kleineren Gemeinden wie Concordia und Entrerios. Gegen Ende der Volksbefragung breiteten sich die Plünderungen aus und erreichten auch den Großraum Buenos Aires. Die Zahl der abgegebenen Stimmen war beeindruckend: drei Millionen wurden gezählt - ohne Unterstützung des Staates oder irgendeiner politischen Partei. Der Erfolg zeigte, dass ein anderer Weg möglich war. In gewisser Weise war es eine Ergänzung der Aufstände: Die, die sich nicht trauten, eine Straße zu besetzen, konnten zumindest ihre Stimme abgeben.
Am 17. Dezember ereignete sich in Quilmes folgende Szene: Über tausend Menschen, zusammengerufen von der Arbeitslosenorganisation Teresa Rodríguez, in der Mehrzahl BewohnerInnen von Armenvierteln, strömten in ein Viertel, in dem es über acht Häuserblöcke Großmärkte, Supermärkte, Lebensmittelketten, Baumärkte und andere Geschäfte gibt. Das Polizeiaufgebot war beeindruckend und umfasste sogar Hubschrauber.
Die Menschen erbaten Lebensmittel - nicht mehr und nicht weniger. In einem enorm angespannten Klima gaben die Supermärkte schließlich nach und verteilten Tüten mit Nahrung. Die DemonstrantInnen zogen sich ohne den kleinsten Zwischenfall zurück. Am folgenden Tag begannen die Plünderungen, hier und an anderen Orten im Großraum Buenos Aires.
Die Stimmung kochte über. Niemand rief sie zusammen, obwohl einige PolitikerInnen versuchten, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Die einzige erlaubte Flagge war die argentinische. Trotz Furcht und Unterdrückung waren die Plünderungen ein Fest. Wenn sie in ihre Häuser zurückkamen, tauschten die Nachbarn ihre Beute: Wer nur Hackfleisch abbekommen hatte, gab einen Teil an eine Familie ab, die Früchte oder Gemüse hatte, und so wurde das Ganze zu einer Übung, die in den Armenvierteln schon lange an der Tagesordnung ist. Die Lebensmittel wurden unter die Nachbarn verteilt.
»Man erlebt ein Gefühl der Erfüllung, der Wiedererlangung von Würde«, kommentierte ein Bewohner von Quilmes. Die Leute haben ihre Angst verloren und sie haben gemerkt, dass sie etwas von ihren Protesten haben.
Verglichen mit der Situation von vor zwei oder drei Jahrzehnten hat sich der soziale Protest grundlegend gewandelt: Es ist das Ende der Fabriken und die Geburt des Stadtviertels. Die gewerkschaftliche Organisation weicht einer territorialen Organisierung, vom Streik zu Blockaden, von der Gewerkschaft zur vielgestaltigen sozialen Organisation.
Das impliziert auch andere Veränderungen: vom homogenen sozialen Subjekt zu verschiedenen miteinander vernetzten Subjekten, vom erwachsenen Mann als dem typischen Vertreter der Gewerkschaft zu denen, die wir dieser Tage im Fernsehen gesehen haben: Frauen und Jugendliche in der ersten Reihe des Protests. Das Ende des sozialen Patriarchats öffnet die Schleusentore der lange unterdrückten sozialen Energien. Jetzt sind es ganze Familien, die mit Kindern auf den Armen auf die Straße gehen. Das und der Massencharakter neutralisieren die Unterdrückungsmaschinerie.
Dieser Artikel erschien zuerst in der uruguayischen Zeitung La Brecha, http://www.brecha.com.uy, und auf deutsch in der Sozialistischen Zeitung - SoZ, http://www.soz-plus.de. Weitere aktuelle Informationen zu Argentinien finden sich unter http://www.germany.indymedia.org.