Ziemlich genau ein Jahr nach seiner Ankündigung, die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 in ihrer damaligen Form endgültig einzustellen, präsentierte Jan Philipp Reemstma, Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS), am 28. November 2001 in Berlin eine komplett neu konzipierte Wehrmachtsausstellung. Auch ehemalige KritikerInnen zeigen sich mit der stärker historisierenden Präsentation versöhnt. Es stellt sich die Frage, ob sich eine kritische Auseinandersetzung entwickeln kann.
Die neue Ausstellung wird zurzeit unter dem Titel Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944 in den Berliner Kunst-Werken gezeigt. Von Ulrike Jureit, der Sprecherin des verantwortlichen AutorInnenteams, als Antwort auf die Debatte über die alte Ausstellung angekündigt, wurde das neue Projekt des HIS mit prominenter Unterstützung im Berliner Ensemble eröffnet. Sowohl etablierte Historiker wie Hans Erich Volkmann und Hans Mommsen, der Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Ausstellung ist, als auch Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin (SPD) hoben in ihren Einführungsreden das überarbeitete, nach »dokumentarischer Evidenz« strebende Konzept lobend hervor.
Der deutlichste methodische Unterschied zwischen alter und neuer Ausstellung ist die Abkehr vom Konzept einer mit psychoanalytischen Mitteln erreichten Annäherung an den Gegenstand. Stattdessen zeichnet sich die gegenwärtige Präsentation durch einen systematischeren Ansatz aus. Anstelle der exemplarischen Darstellung von drei Kriegsschauplätzen bilden nun sechs so genannte Dimensionen des Vernichtungskrieges das thematische Gerüst, was einen umfassenderen Einblick in die von der Wehrmacht in Ost- und Südosteuropa zu verantwortenden Gräuel bieten soll.
So wird beispielsweise nun auch die Rolle der Wehrmacht im Ernährungskrieg aufgezeigt, durch den sich aufgrund der systematischen wirtschaftlichen Ausplünderung ganze Regionen in »Kahlfraßzonen« verwandelten. Der Bereich Deportationen und Zwangsarbeit stellt den logistischen und praktischen Aufwand der Besatzungsarmee im Zuge der ArbeiterInnenrekrutierungen unter der Zivilbevölkerung vor. Das Zusammenspiel von Wehrmacht, Einsatzgruppen und SS bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung und anderer vom Nationalsozialismus verfolgten Personengruppen ist Gegenstand des Themenraums Völkermord. In den Abschnitten Partisanenkrieg, Repressalien und Geiselerschießung und Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen werden die Wehrmachtsverbrechen vor allem am juristischen Maßstab des damals geltenden Kriegsrechts verdeutlicht. Dazu wird eingangs eine Einführung in die Haager Landkriegsordnung sowie in weitere völkerrechtlich relevante Dokumente gegeben, welche im Anschluss mit Zeugnissen der politischen und rasseideologischen Prämissen bei der Planung des Ostfeldzuges kontrastiert werden.
Die Skizzierung der Handlungsspielräume von Wehrmachtsoffizieren bei der Umsetzung verbrecherischer Befehle verdeutlicht die Bedeutung der individuellen Entscheidung im nur auf den ersten Blick alternativlosen System von Befehl und Gehorsam. Vermittelt wird dies alles hauptsächlich über Texte, daneben auch über Fotografien und Tondokumente, die in Sitzvitrinen betrachtet beziehungsweise gehört werden können. Die Kernaussagen decken sich nach Einschätzung des verantwortlichen HistorikerInnenteams mit denen der alten Ausstellung. Ein kritischer Rückblick auf die frühere Arbeit könne zudem unter Hinzuziehung strukturalistischer Interpretationsansätze, welche auf Aspekte der situativen Dynamik eingehen, ergänzend und nicht relativierend wirken.
Auch die Zustimmung vieler ehemaliger KritikerInnen scheint gewiss, wovon sich allerdings Jung- und Altnazis nicht beeindrucken ließen und Demonstrationen ankündigten - die sie nun aber aufgrund der allgemeinen positiveren Bewertung anders als noch vor fünf Jahren ohne Unterstützung der christlichen Volksparteien bestreiten mussten. Auf einem von der NPD angemeldeten Protestmarsch durch das alte jüdische Viertel in Berlin-Mitte kam es am 1. Dezember vor der Neuen Synagoge zu Zusammenstößen zwischen zirka 3000 Neonazis und etwa ebenso vielen GegendemonstrantInnen.
Diese Auseinandersetzungen im Umfeld der neuen Ausstellung erinnern an die ereignisreiche Geschichte ihrer Vorgängerin. Nach einem im Vergleich zur späteren Popularität relativ unspektakulären Start im März 1995 wanderte die Fotoschau von Hamburg aus zunächst unter anderem über Berlin, Stuttgart und Erfurt nach München. Die dortige Präsentation wurde schon im Vorfeld durch einen Boykottaufruf der CSU-Fraktion Gegenstand der öffentlichen Debatte. Bayrische Landespolitiker riefen im Februar 1995 zu einer Demonstration gegen die Ausstellung auf, mit der laut Bayernkurier angeblich ein »Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk« geführt werde. Es kam zu Straßenschlachten zwischen zirka 15000 rechten und linken DemonstrantInnen. Von da an gehörten derartige Konfrontationen zum Begleitbild fast aller Ausstellungseröffnungen. Mit einem im März 1999 verübten Sprengstoffanschlag auf die Saarbrücker Volkshochschule, in deren Räumen die Bild- und Textdokumente gezeigt wurden, erreichten die bis dahin vor allem aus dem Anbringen von Graffiti und Verteilen von Buttersäure bestehenden Störaktionen ein neues Niveau.
Auch die in der Fachwissenschaft geführte Kontroverse hatte sich zugespitzt. Im Oktober 1999 veröffentlichte der Historiker Bogdan Musial in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte einen Aufsatz, in dem er nachwies, dass neun der ausgestellten Fotografien entgegen der Darstellung in ihren Begleittexten nicht Opfer der Wehrmacht sondern des sowjetischen Geheimdienstes NKWD zeigten. Ausgehend von der Kritik Musials wurde der Vorwurf der Fälschung laut, der zur Einsetzung einer unabhängigen ExpertenInnenkommission zur Überprüfung der Ausstellung führte. Die Kommission bestätigte in ihrem Abschlussgutachten die aufgedeckten Ungenauigkeiten. Sie verteidigte aber die Grundaussagen, bemängelte jedoch den pauschalen und suggestiven Charakter der Präsentation. Daraufhin verkündete Jan Philipp Reemtsma Ende November 2000 den Entschluss des HIS, die zu diesem Zeitpunkt bereits eingestellte Ausstellung zugunsten einer neuen gänzlich aufzugeben.
Die alte Wehrmachtsausstellung ist nun selbst Gegenstand geschichtlicher Aufarbeitung: Ihre Stellwände gingen in das Archiv des Deutschen Historischen Museums zu Berlin ein, Dokumente der von ihr hervorgerufenen Kontroverse bilden jetzt einen eigenen Themenraum in der neuen Ausstellung. Die ihr zugewiesene neue Rolle als Zeugnis für die Entwicklung der historisch-politischen Kultur in der Bundesrepublik sowie die vom HIS für notwendig erachtete komplette Neukonzeption weisen darauf hin, dass die Gründe für ihre Absetzung nur bedingt in den fehlerhaften Erläuterungstexten zu finden sind. Eher scheint die von den AutorInnen der alten Ausstellung gewählte Perspektive auf die aktive Rolle der Wehrmacht bei Planung und Durchführung des Vernichtungskriegs in Osteuropa den zu ihrer Einstellung führenden Druck verursacht zu haben.
Eben diese Betrachtung der TäterInneneigenschaft jenseits einer Erinnerungstradition von Bitburg und Volkstrauertag erregte Empörung und öffentliche Diskussion. Ähnlich - und fast zeitgleich - wie der amerikanische Historiker Daniel J. Goldhagen mit seinen Thesen über den Anteil der deutschen Bevölkerung an den Verbrechen im Nationalsozialismus sahen sich die AusstellungsmacherInnen mit ihrem verwandten Interpretationsansatz den Vorwürfen der Pauschalisierung und politischen Instrumentalisierung ausgesetzt. In der Tat erschienen einige der konzeptionellen Bedenken berechtigt, etwa im Zusammenhang mit dem überwiegenden Gebrauch des Bildmediums, welches Assoziationen an NS-Dokumentarfilme aus den Fünfzigerjahren hervorrief, in denen die verübten Verbrechen ohne Hinweise auf ihren politisch-ideologischen Hintergrund dargestellt wurden.
Der Sturm der Entrüstung über die Formulierung von Thesen, die seit den frühen Siebzigerjahren unter HistorikerInnen weitgehend akzeptiert werden, verdeutlichte jedoch, dass das öffentliche Geschichtsbild der Wehrmacht auch in den Neunzigerjahren noch hinter den wissenschaftlichen Ergebnissen zurückgeblieben war. Offen wird auch bei der neuen Ausstellung bleiben, inwieweit konsensuale wissenschaftliche Erkenntnisse auf den Diskurs der öffentlichen Erinnerungskultur einwirken können.
Die Ausstellung gastiert bis zum 13. Januar 2002 in Berlin. Vom 28. Januar bis zum 17. März 2002 wird sie dann im Historischen Museum Bielefeld zu sehen sein. Verhandlungen mit weiteren Bewerberstädten sind nach Angaben der OrganisatorInnen im Gange.