Im Jahr 2002 erhielt Imre Kertész den Nobelpreis für Literatur. Nach den eher unbekannten (Gao Xinjiang; 2000) und umstrittenen (V.S. Naipaul; 2001) Preisträgern der letzten Jahre waren sich diesmal die internationale Kritik und auch das sonst eher missgünstige deutsche Feuilleton einig: Die Osloer Kommission hatte einen absolut würdigen Preisträger gekürt.
Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Seit 1953 lebt er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Budapest. Er erhielt zahlreiche Preise für seine Romane, Erzählungen und Essays - »für ein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet«, wie es die Nobelpreiskommission blumig ausführte.
Sein sicherlich wichtigstes Werk ist der Roman eines Schicksallosen, für mich eines der eindrucksvollsten literarischen Zeugnisse des Holocaust. Mit diesem Buch gelingt ihm das schier Unmögliche: die Beschreibung des Unbeschreiblichen.
Kertész erzählt aus der Perspektive eines Fünfzehnjährigen, der aus heiterem Himmel in das System der Konzentrationslager gerät. Dieser hat keine Ahnung, was ihn erwartet. In seiner Naivität freut er sich, dass beim »Entladen« des Deportationszuges Soldaten auftauchen, die für Ordnung sorgen. Er ist stolz, zu den erwachsenen arbeitsfähigen Männern zu gehören und gerät so immer weiter in den unvorstellbaren Kosmos der Lager. Da er jung und kräftig genug ist, und das Grauen jegliche Vorstellung und alle seine bisherigen Erfahrungen übersteigt, kann er die Verhaltensweisen erlernen, die ihm ein Überleben ermöglichen. Diese Perspektive und der teilweise lakonische Ton aber auch die unfreiwillige Komik ermöglichen eine Identifikation mit dem Protagonisten, denn gerade so gelingt es Kertész, das Grauen zu schildern und doch seine Faszination zu umgehen. Er ermöglicht eine Leseerfahrung, die noch lange nachwirkt.
Aber das Werk Kertész' geht weit über bloße Geschichtsschreibung hinaus: Mit den beiden folgenden Romanen, Fiasko und Kaddisch für ein nie geborenes Kind hat er ein bleibendes Werk über die Möglichkeiten menschlichen Verhaltens und menschlicher Verständigung geschaffen.
Ungarn, 1999 immerhin Gastland der Frankfurter Buchmesse, ist als literarische Nation hierzulande noch kaum im Bewusstsein der LeserInnen. Allerdings haben sich einige Autoren doch einen festen Platz in der deutschen Verlagslandschaft erschreiben können. So zum Beispiel der 1900 geborene Sandor Márai, der bis zu seiner Wiederentdeckung im Jahre 1998 in Deutschland fast völlig unbekannt war. Dessen Roman Die Glut ist nachgerade zu einem Bestseller geworden. Dieser Roman ist eine Parabel über Freundschaft, Liebe und die Unausweichlichkeit des Schicksals. Nach und nach erschienen weitere Titel dieses Autors, der sich 1989 nach dem Tod seiner Ehefrau im New Yorker Exil das Leben genommen hat. Seine inzwischen ebenfalls veröffentlichten Tagebücher schildern gerade diese Phase seines Lebens unglaublich präzise, unpathetisch und erschütternd. Mit Márai kann man in den Kosmos der untergegangenen Donaumonarchie eintauchen, der bei den bürgerlichen Autoren dieser Generation ein wichtiger Topos ist.
Dass ich zu Beginn gerade diesen Schriftsteller herausgreife, liegt daran, dass er drei Eigenschaften aufweist, die den meisten hierzulande verlegten ungarischen Schriftstellern gemeinsam sind: Er ist in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geboren, entstammt bürgerlichen Verhältnissen und ist ein Mann. Nicht dass es keine Autorinnen gäbe oder Schriftstellerinnen und Schriftsteller jüngeren Jahrgangs, sie sind schlichtweg nicht übersetzt oder nicht verlegt. Die Werke jüngerer Autoren und Autorinnen, die im Zuge der Frankfurter Buchmesse 1999 erschienen waren, sind bereits nicht mehr lieferbar. So zum Beispiel der phantastische Krimi Die graue Taube von Sandor Tár, der ein bedrückendes Bild der postsozialistischen Tristesse im Ungarn der frühen Neunzigerjahre zeichnet.
Gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist das Bändchen Minutennovellen von István Örkény (1912-1979). Hier hat dieser Autor gleich eine ganz neue literarische Form erfunden, kurze Texte, die in Minuten zu lesen sind, und in verknappter, präziser Form alltägliche und ungewöhnliche Begebenheiten schildern, die die Absurdität des Lebens nicht nur beschreiben, sondern selbst teilweise absurd sind. Die Novelle mit dem Titel ODE AN EIN EISENSTÜCK UNBEKANNTER FUNKTION, DAS IN EINEM KÄSTCHEN VOLLER GERÜMPEL IN ALLER STILLE DIE STÜRME DER GESCHICHTE ÜBERDAUERTE, DENN WEDER MEIN GROSSVATER NOCH MEIN VATER, NOCH ICH HATTEN JE DIE COURAGE, ES WEGZUWERFEN, UND AUCH DER, DER NACH MIR KOMMT, WIRD SIE NICHT HABEN besteht nur aus einem Satz: »Du schaffst es, Kleiner.« Eine andere Novelle erzählt vom Selbstmord einer Tulpe, die keine Tulpe sein wollte. Auch Anekdoten aus seiner Zeit als Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg oder Begebenheiten des realsozialistischen Alltags finden in dieser Sammlung Platz, wobei manche der Texte mit ihrer in scheinbar Absurdem versteckten Weisheit an zen-buddhistische Parabeln erinnern.
Hier kann man eine weitere Eigenschaft erkennen, die vielen der vorgestellten Autoren eigentümlich ist: Ein feiner, manchmal melancholischer, manchmal absurder Humor, der subversiv, geistreich, aber niemals verletzend oder zynisch ist. Dieser Humor ist es auch, der in der politischen Atmosphäre nach dem Ungarnaufstand 1956 in der Bevölkerung aufkeimte, um mit Unterdrückung und plansozialistischer Bevormundung fertig zu werden. Man erinnere sich an den Witz der UngarInnen, die ihr Land gerne als »das glücklichste Gefängnis der Welt« bespöttelten.
Ein hervorragender Vertreter dieses Humors ist auch der jüngste der vorgestellten Autoren: Péter Esterházy. Hierzulande ist der 1950 geborene Schriftsteller nach einem Band mit Erzählungen und Essays wie etwa Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors vor allem mit seinem grossen Familienroman Harmonia Caelestis bekannt geworden. Dieser grosse, farbige und pralle historische Roman schildert die Geschichte der Habsburgischen Aristokratenfamilie der Esterházy. Ein wirklich witziges und pfiffiges Buch, das die Familie von den sagenhaften Anfängen über die Dekadenz der k.u.k.-Monarchie bis in das Ungarn des Gulaschkommunismus begleitet. Ein wirkliches Vergnügen, diesem klugen und gewitzten Autoren in die Tiefen und Untiefen der Geschichte zu folgen. Nun wurde auch sein 1976 in Ungarn erschienener Debütroman Fancsikó und Pinta auf deutsch veröffentlicht. Der Roman zeichnet auf poetische Weise das Bild einer Familie im Ungarn der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Was in Harmonia Caelestis prall und ausschweifend daherkommt, ist hier schon sparsam still und poetisch angelegt. Esterházy hat mit Imre Kertész auch die gemeisame Erzählung Eine Geschichte veröffentlicht.
Aber nicht nur der Humor ist es, der sich wie ein roter Faden durch die Werke der hier versammelten Autoren zieht, es ist vielmehr auch immer eine gewisse Melancholie, die wie ein Grundton unter vielen der Romane und Erzählungen liegt.
Béla Zsolt (1895-1949) einer der wichtigsten Vertreter der ungarischen Literatur der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, hat diesen melancholischen Ton bis zur Düsterkeit gesteigert. In seinem Roman Neun Koffer von 1946 schildert er autobiographisch den Weg eines jüdisch-ungarischen Journalisten auf der Flucht aus Paris, der wegen der neun Koffer seiner Frau nur noch einen Zug nach Ungarn bekommen kann, geradewegs ins Verderben, in Arbeitsdienst, Gefängnis und Ghetto. Auch der zweite in Deutschland von ihm erschienene Roman Eine seltsame Ehe erzählt eine düstere Geschichte. 1935 entstanden, beschreibt er im Rückblick eines Ehemannes, der auf die Niederkunft seiner Frau wartet, die Ehe eines bürgerlichen jüdischen Paares, die absolut unglücklich miteinander verheiratet sind. Sie sind nicht nur dem Druck der Familie ausgesetzt, sondern spüren auch, wie sich die Situation auch der assimilierten liberalen JüdInnen im Ungarn der Dreißigerjahre immer weiter verschlimmert. Diese beiden Romane haben nichts von der oben geschilderten Leichtigkeit, sind aber dennoch faszinierende und beklemmende Beschreibungen einer Epoche. Ihre formale Meisterschaft und die gelungene Übersetzung machen sie zu wirklich eindrucksvollen Leseerfahrungen.
Hartmut Schwarz arbeitet als Buchhändler in Köln.