Laut einer Umfrage der ARD-Sendung Titel, Thesen, Temperamente vom 2. März diesen Jahres bejahen zwei von drei Deutschen in Ausnahmefällen die Anwendung von Folter. In die Medien geraten ist das Thema Folter durch das Vorgehen des Frankfurter Vize-Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner in einem Entführungsfall. Um den Aufenthaltsort des entführten Kindes zu erfahren, hatte der Beamte angeordnet, den Verdächtigen »nach vorheriger Androhung, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen)« zu vernehmen. Nach der Definition des Grundgesetzes und diverser internationaler Abkommen ist allein die Androhung der Schmerzzufügung, die im vorliegenden Fall auch von den ausführenden Polizeibeamten durchgeführt wurde, bereits Folter und somit verboten.
Die folgende öffentliche Diskussion drehte sich schnell nicht mehr um den Einzelfall, sondern um die generelle Frage, ob Folter zur Abwehr einer Lebensgefahr nicht doch legitim sei und eventuell auch legalisiert, sprich in geltendes Recht umgesetzt werden sollte, wenn sie nicht schon durch dieses gedeckt ist. Damit wurde nicht nur ein Rechtsgrundsatz, sondern ein Fundament menschlichen Seins, die Menschenwürde, in Frage gestellt.
So war der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Geert Mackenroth, der Auffassung, es seien »Fälle vorstellbar, in denen auch Folter oder ihre Androhung erlaubt sein können, nämlich dann, wenn dadurch ein Rechtsgut verletzt wird, um ein höherwertiges Rechtsgut zu retten.« Erst auf Druck seiner Landesverbände stellte er klar, dass jede Art von Gewalt - auch deren Androhung - zur Erzwingung einer Aussage verboten sei.
Eine klare Haltung für das absolute Verbot von Folter nahm der stellvertretende Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts und Strafrechtsprofessor Winfried Hassemer ein. In der Süddeutschen Zeitung beklagt er, dass wir das »normative Erschrecken der Nazi-Zeit nicht mehr in den Knochen« haben. »Es ist etwas verloren gegangen: Wir haben nicht mehr das Gefühl, dass es Grundsätze im Recht gibt, die wir nicht ändern könnten, selbst wenn Mehrheiten dafür ausreichend wären.«
Das Menschenbild
Die Würde des Menschen positiv zu erklären, ist schwer. Ein Ansatz geht unter anderem auf Immanuel Kant zurück, der von der Autonomie des Menschen ausgeht. Er sieht in der Autonomie den »Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« und widerspricht damit einem Willkürgott. Nur so sei Freiheit überhaupt möglich. Weiter sagt er: »Der Mensch kann von keinem Menschen ( ) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt.« Eben dieser Auffassung folgt auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es sagt, dass der Mensch Selbstzweck ist und niemals allein Mittel des Staates oder staatlicher Handlungen sein darf. Deshalb steht die Würde des Menschen am Anfang der Verfassung, ist sie Grundlage nicht nur der einzelnen Grundrechte, sondern Grundlage der Beziehung zwischen dem einzelnen Mensch und dem Staatswesen insgesamt. Die Würde ist Grundlage des menschlichen Seins. Sie wird nicht verliehen, sie kann nicht erarbeitet werden oder verloren gehen. Und hier kommen wir zum Fall der Folter zurück. Die Würde des Menschen steht damit über dem Leben des Menschen. Das Leben beginnt und endet. Doch die Würde besteht auch über den Tod hinaus, so dass unsere Rechtsordnung auch die Würde von Toten schützt.
Die Folter, egal ob sie der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr dienen soll, greift den Menschen in seiner Autonomie an. Bei der Folterung wird die Abhängigkeit des Menschen von seinem Körper ausgenutzt, um seine freie Entscheidungsfähigkeit, um den eigenen Willen auszuschalten. Damit wird das Menschsein an sich angegriffen.
Die historische Erfahrung
Nicht nur aus dem christlich-humanistischen Menschenbild heraus haben die so genannten Väter der Verfassung die Würde des Menschen an erste Stelle gestellt und für unantastbar erklärt. Die Misshandlung von Menschen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus vor Augen machten sie die Menschenwürde zum obersten Rechtsgut, das zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Misshandlungen und Folter waren bei Polizei, SS, Wehrmacht und anderen staatlichen Institutionen verbreitete Praxis. Aber auch in der Weimarer Republik und früher wurde die Folter bei der Polizei angewandt. Im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gehörte sie fast selbstverständlich zum Strafverfahren. Erste Maßnahme der Folter war dabei immer die Androhung durch das Vorführen der Instrumente. Deshalb gilt auch heute schon die Androhung selbst als Folter.
Eine Erkenntnis aus der Geschichte ist auch, dass es keine kontrollierte oder begrenzte Folter oder Folter in Ausnahmefällen gab und geben kann. Wo sind die Grenzen zu ziehen? Wann helfen andere Mittel nicht mehr weiter? Es kann darauf nur eine Antwort geben, die auch in mehreren internationalen Abkommen formuliert wurde: Folter ist und bleibt in allen Situationen tabu. So schloss das oberste Gericht Israels vor kurzem Folter für staatliches Handeln aus, da es unmöglich sei, Grenzen zu ziehen. Das Grundgesetz geht in Artikel 104 Absatz 1 Satz 2 sogar noch weiter als das sich aus der Würde des Menschen ergebende Folterverbot und besagt ausdrücklich: »Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden.« Deutschland hat damit Konsequenzen aus der Geschichte gezogen.
Bedürfnis nach Sicherheit zerstört Freiheit
Die Debatte um die Folter in Deutschland ist auch vor dem Hintergrund einer Angsthysterie unter der Bevölkerung zu betrachten. Nicht erst seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York ist zu beobachten, dass wir uns zu einer Angstgesellschaft entwickeln. Nicht zuletzt die Medien haben daran großen Anteil. Die Zahl der Gewaltverbrechen geht in Deutschland seit Jahrzehnten zurück, doch eine ausführlichere und sensationsgeile Berichterstattung suggeriert das Gegenteil. Das Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung steigt. Begleitet wird dieses seit Mitte der Siebzigerjahre durch eine kontinuierliche Verschärfung der Strafgesetze, eine Zunahme staatlicher Eingriffsmöglichkeiten in die Freiheitsrechte der BürgerInnen und einen Ausbau der so genannten Präventivmaßnahmen. Dieses Präventivrecht soll Straftaten und Ordnungswidrigkeiten schon vor der Begehung verhindern und gehört in den weiten Bereich der Gefahrenabwehr. So wurden in den Polizeigesetzen der Länder immer mehr Befugnisse festgeschrieben, die die BürgerInnen zu Objekten geheimdienstlicher Methoden machen. Ob es die Wohnraumüberwachung, die Rasterfahndung, der Einsatz von verdeckten ErmittlerInnen, Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Aufenthaltsverbote, Platzverweise, Vorbeugegewahrsam oder Ausreiseverbote sind, all das macht eines deutlich: Der einzelne Mensch ist nicht in erster Linie freieR BürgerIn sondern potenzielleR StraftäterIn. Und diese Entwicklung wird von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen, weil sie glaubt, es könne eine absolute Sicherheit geben. Beim Versuch, diese zu erreichen, bleibt ein Grundrecht nach dem anderen, bleibt die Freiheit auf der Strecke. Und eben diese Freiheit ist es doch, die uns zu Menschen macht.
Wie es weitergehen kann, sehen wir am Beispiel der USA. Seit dem 11. September verschwinden dort Menschen in Gefängnissen, ohne dass RichterInnen hinzugezogen oder AnwältInnen bzw. Angehörige informiert werden. Das ist Präventivrecht. Auf dem US-Militärstützpunkt in Guantanamo sitzen etliche Gefangene fest, abgeschlossen von der Außenwelt, ohne das Recht auf ein gerichtliches Verfahren und wahrscheinlich Folter und Misshandlungen ausgesetzt. Doch niemand protestiert wirklich. Stattdessen hat Europol, eine europäische Polizeibehörde, die vor allem Daten speichert, die Weitergabe ihrer Informationen an US-Behörden in einem Abkommen festgeschrieben. Auch zwischen dem deutschen Bundeskriminalamt und den USA werden fleißig Daten ausgetauscht. Die USA haben nun damit begonnen, ein riesiges Datenverarbeitungssystem einzurichten, in dem Informationen über alle Menschen gespeichert werden sollen, die in irgendeiner Weise in Verbindung mit den USA stehen.
Der Staat ist nicht von sich aus »gut«. Er bedarf fortwährend freier BürgerInnen, die die Freiheit erkämpfen, verteidigen und in Anspruch nehmen. Er bedarf ausreichender Kontrolle und Beschränkung. Eine dieser Beschränkungen ist das absolute Verbot der Folter. Deshalb müssen seine KritikerInnen, auch wenn sie glauben, in guter Absicht zu handeln, in ihre Schranken gewiesen werden. Das geht aber nur, wenn die BürgerInnen dem Staat selbstbewusst gegenüberstehen. Eine Angstgesellschaft ist hingegen Grundlage des totalitären Staates und führt zum Verlust von Freiheit und am Ende auch wieder zum massenweisen Angriff auf die Menschenwürde.