Bernhard Schmid ist Jurist, lebt seit acht Jahren in Paris und schreibt als freier Journalist unter anderem für Analyse & Kritik, Jungle World, Konkret und SoZ. Über den Front National (FN) veröffentlichte er 1998 das Buch Die Rechten in Frankreich. Für die philtrat sprach Volker Elste mit ihm über politische Ausrichtung und Perspektiven des FN.
Bei den Präsidentschaftswahlen im April 2002 erreichte der Kandidat des Front National, Jean-Marie Le Pen, die zweite Runde. War dieses Ergebnis wirklich überraschend?
Ja und Nein. Ja, weil der FN durch die Parteispaltung Ende 1998 erheblich geschwächt worden war. Diese Spaltung war mit einer erheblichen Abnahme von Kadern in der Parteispitze verbunden, von denen viele in die Abspaltung, den heutigen Mouvement National Republicain (MNR), abwanderten. Der MNR ist zwar zu einer Splittergruppe geworden, der FN verlor hierdurch jedoch zirka die Hälfte der zu eigenständigem Denken fähigen Kader.
Nein, da der allmähliche Anstieg von Le Pen in den Umfragen vor der Wahl zu beobachten war. Dies hängt in gewisser Weise mit dem Fall Out nach dem 11. September zusammen, aber auch damit, dass Le Pen die Pose des Robin Hood, die er ohnehin gerne einnimmt, medienwirksam vermitteln konnte. In den Medien wurde ständig über die Schwierigkeiten von Le Pen berichtet, die fünfhundert Unterschriften von MandatsträgerInnen zu bekommen, die in Frankreich zur Kandidatur notwendig sind. Durch die Spaltung hatten zirka 150 RegionalparlamentarierInnen den FN verlassen, sodass Le Pen damit Probleme hatte. Er konnte daher die Rolle als Opfer des Systems einnehmen, ohne im Wahlkampf auf einen stark ideologisch geprägten Diskurs zurückgreifen zu müssen.
Das eigentliche Überraschungsmoment war auch nicht der Anstieg für Le Pen, da er sich im wesentlichen auf dem Niveau von 1995 halten konnte und einen Teil des rechtskonservativen Lagers, das zuvor für KandidatInnen zwischen der bürgerlichen und der extremen Rechten gestimmt hat, absorbierte. Das Hauptelement der politisch-tektonischen Plattenverschiebung war die gravierende Niederlage des sozialdemokratischen Kandidaten, Lionel Jospin, der für die Bilanz der fünfjährigen sozialdemokratischen Regierungszeit bezahlen musste. Viele Menschen sind aus diesem Grund der Wahl ferngeblieben oder haben für die KandidatInnen der radikalen Linken gestimmt. Diese hat insgesamt beachtliche 10,5 Prozent der Stimmen bekommen.
In deinem Buch Die Rechten in Frankreich bezeichnest du den FN als neofaschistisch.
Heute würde ich das insofern modifizieren, dass ich von einer potenziell faschistischen Partei sprechen würde. Von Faschismus würde ich sprechen, wenn wir es nicht mit einer rein institutionellen Partei oder einer Wahlpartei zu tun hätten, sondern mit einer Partei, die eine reaktionär geprägte Massenbewegung außerhalb des bürgerlichen Systems zu schaffen versuchte und potenziell andere Mechanismen der politischen Partizipation, als die bürgerliche Demokratie sie vorsieht, durchsetzen wollte - eben in Form reaktionärer Massen- beziehungsweise Straßenmobilisierung. Insofern konnte man den FN in den Neunzigerjahren als Embryo einer faschistischen Partei bezeichnen.
Als Embryo auch insofern, da der FN tatsächlich - als die extreme Rechte in den Neunzigerjahren die Bilanz ihres Scheiterns zog, sich rechts von den Konservativen zu etablieren - den Versuch unternommen hat, durch starkes Betonen sozialer Demagogie und durch das Organisieren von Vorfeldorganisationen den FN als eine Art sozialer Bewegung in der Gesellschaft zu verankern. In den Achtzigerjahren hatte der FN in der Öffentlichkeit das Profil einer national-reaktionären, einer verschärft rechtskonservativen Partei; also einer Partei, die Elemente wie den Katholizismus betonte, eine gegen den Kommunismus der Sowjetunion gerichtete prowestliche Ausrichtung hatte und gegen die arabische Immigration war.
In den Neunzigerjahren traten dann andere Elemente in den Vordergrund, wie zum Beispiel die soziale Demagogie, die sich an ArbeiterInnen und Arbeitslose richtete. Ein solcher Einbruch in die frühere LinkswählerInnenschaft erschien den rechtsextremen VordenkerInnen deswegen möglich, weil der Kommunismus durch das Ende der Sowjetunion und die Sozialdemokratie durch ihre Hinwendung zu neoliberalen Paradigmen am Ende zu sein schienen. Die institutionelle Verankerung als Bewegung sollte durch die Gründung sozialer Vorfeldorganisationen erreicht werden, wie zum Beispiel einer MieterInnenvereinigung im sozialen Wohnungsbau. Es gab zudem den Versuch, eigene Pseudogewerkschaften zu gründen.
Diese Entwicklung wurde durch die Parteispaltung abgebrochen. Die meisten der an dieser versuchten Verankerung maßgeblich beteiligten FN-Kader wanderten mit Bruno Megret, dem damaligen Chefideologen des FN, zum MNR ab. Eine Ausnahme ist der derzeitige Generalsekretär des FN, Carl Lang, der einer der Vorreiter der so genannten sozialen Wende war. Beim FN-Kongress in Straßburg 1997 erörterte er ausführlich, warum eine Partei national sein müsse, um sozial sein zu können. Er begründete dies damit, dass die soziale Frage Teil der nationalen Frage sei. Die soziale Frage könne nur gelöst werden, wenn man die MigrantInnen ausweise.
Seit 1999 ist die Partei weitestgehend geprägt durch die charismatische Figur von Le Pen und eine Masse passiver Mitglieder, die den Vorgaben von Le Pen folgt. Die Vorfeldorganisationen sind weitgehend ausgetrocknet. Hinzu kommen die Führungsmethoden von Le Pen, dem es um einen absoluten Herrschaftsanspruch in der Partei geht. Durch diese strukturellen Faktoren ist das klassisch faschistische Element, die Gründung einer außerinstitutionellen Bewegung, zurückgedrängt worden. Insofern würde ich von einer potenziell faschistischen Partei sprechen, von einer Partei, in der Entwicklungsansätze vorhanden sind. Im Moment sind die Ansätze jedoch wenig entwickelt, da der FN seit 1999 in erster Linie eine Wahlpartei ist.
Es wird in den letzten Jahren oft von einer rechtspopulistischen Entwicklung in Europa gesprochen.
Diese Bezeichnung ist problematisch, da Populismus keine inhaltliche Charakterisierung ist, sondern ein Diskursinstrument. Populismus bedeutet, dem Volk beziehungsweise den Untenstehenden in demagogischer Weise praktisch nach dem Mund zu reden und Stimmung gegen den politischen Gegner zu machen. Auch beim FN gibt es natürlich populistische Elemente, sie kennzeichnen ihn aber in keiner Weise.
Der FN hat zum Beispiel in verschiedenen historischen Momenten Positionen ergriffen, die denjenigen seiner WählerInnenschaft konträr gegenüberstanden. Ein Beispiel ist der Golfkrieg 1991. Le Pen ergriff damals überraschend nicht Partei für die von den USA geführten Koalition, sondern verbündete sich offen mit dem System von Saddam Hussein.
Mit welchen Parteien in Europa könnte man den FN aufgrund deiner bisherigen Aussagen vergleichen?
Vergleiche sind natürlich immer schwierig. Aufgrund der momentanen Situation als reine Wahlpartei mit einer dominierenden Ein-Personen-Struktur zum Beispiel mit der DVU in Deutschland. Allerdings ist der FN bei Wahlen wesentlich erfolgreicher als die DVU, die nur sporadisch Wahlerfolge feiern kann. Der FN hingegen hat seit seinem Durchbruch 1984 bei Wahlen selten weniger als zehn Prozent erreicht.
Ich würde den FN aber zum Beispiel weniger mit der FPÖ vergleichen, weil bei der FPÖ noch andere Elemente hinzukommen. Die FPÖ ist eine gelungene und zeitweise erfolgreiche Kombination aus klassisch neoliberaler und klassisch rechter Partei.
Ich würde den FN auch nicht mit der Liste Pim Fortuyn in den Niederlanden vergleichen, da sie wesentlich loser strukturiert ist als der FN. Bei Pim Fortuyn handelt es sich um eine größtenteils wohlstandschauvinistische Verteidigung eines erreichten Lebensstandards in den westlichen Ländern, die aber auch Elemente bürgerlicher Liberalität einschließt. Dazu gehört zum Beispiel die Verteidigung von gewissen individuellen Rechten, die in den höherentwickelten kapitalistischen Ländern erreicht worden sind. Diese werden gegen den Rest der Welt in Anschlag gebracht.
Der FN verfolgt hingegen klassisch reaktionär-gesellschaftspolitische Ziele. Berücksichtigt werden muss hierbei, dass es sich beim FN um ein Konglomerat unterschiedlicher Strömungen handelt. So kämpft zum Beispiel ein FN-Flügel massiv gegen Abtreibung. Ein ultrakatholischer Flügel geht gegen Abtreibung, Empfängnisverhütung und Scheidung vor. Daneben stehen neuheidnische, biologische RassistInnen, die von diesen katholischen Hobbys nicht viel halten.
Wie würdest du die Entwicklung des FN einschätzen?
Das hängt unter anderem vom Erfolg oder Nichterfolg der jetzigen neokonservativen Regierung ab. Diese ist mit dem Anspruch angetreten, eine harte Law & Order-Politik im Bereich der Inneren Sicherheit durchzuführen. In Bezug auf die so genannten Polizei- und Justizreform wurde beispielsweise deutlich gesagt, dass die Lehren aus dem 21. April, also aus dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen, zu ziehen seien und man sich an die WählerInnen wenden müsse, die durch das Gefühl eines Mangels an Innerer Sicherheit verunsichert sind. Es ist ganz klar, dass derartige Aussagen auf die WählerInnen von Le Pen und Megret abzielen.
Der FN hat momentan Probleme, sich von dieser Politik und der sich verschärfenden Einwanderungspolitik abzugrenzen. In den letzten drei Wochen gab es beispielsweise eine Reihe von so genannten Kollektivabschiebungen mit jeweils zirka sechzig Leuten. Die erste Maßnahme der neuen Regierung war die Schaffung von 13500 zusätzlichen Stellen im Polizei- und von 10100 Stellen im Justizbereich. Zudem wurden 11000 neue Gefängnisplätze eingerichtet. Damit kehrt für den FN das Problem der Achtzigerjahre zurück, als die Konservativen dem FN keinen Platz gelassen haben. Indem der FN nun das Thema Immigration als das hinter der Inneren Sicherheit stehende Kernproblem in den Vordergrund stellen wird, droht er in die extremistische Ecke zu geraten. Im Moment jedenfalls bin ich davon überzeugt, dass der FN nicht mehr als stagnieren wird.