Manchmal werden bahnbrechende Weichenstellungen übersehen: »Mit seinem Satz, die Freiheit könne auch am Hindukusch verteidigt werde, hätte Verteidigungsminister Peter Struck hierzulande eigentlich einen pazifistischen Aufschrei erzeugen müssen. Aber auch als Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan Präventivschläge mit deutscher Beteiligung ins Spiel brachte, blieb es ruhig. Fast unbemerkt haben Struck und sein oberster Soldat eine Diskussion über die strategische Neuausrichtung der Bundeswehr angestoßen, die in der (sic!) größten Bundeswehr-Reform aller Zeiten münden kann«, so stand es am 2. Februar 2003 in der Welt am Sonntag.
Die bundesdeutsche Gesellschaft reagierte auf Peter Strucks berühmt-berüchtigten Satz vom 4. Dezember 2002 sehr verhalten. Leider eine seit Jahren bekannte Reaktion bei wesentlichen Entscheidungen zur Militarisierung Deutschlands. Klare Reaktionen und Kritik an den skandalösen Äußerungen Strucks gab es lediglich aus den Reihen der Friedensbewegung. Gerade die Kritik an der deutschen Militär- und Kriegspolitik ist für viele der dort engagierten Gruppen und Institutionen von zentraler Bedeutung. Nur - und das ist ein zentraler Aspekt - wird über diese Kritik an deutscher Kriegs- und Kriegsunterstützungspolitik weniger berichtet. Viele, auch linksliberale und linke Medien schwimmen lieber auf der Mainstream-Linie mit, die da heißt, Deutschland (oder besser die Bundesregierung) betreibe Friedenspolitik.
Tatsächlich fährt die Bundesregierung eine bewusste Doppelstrategie in Sachen Irakkrieg: eine umfassende militärische Unterstützung des Krieges verbunden mit diplomatischen Initiativen gegen den Krieg. Ziel dieser Doppelstrategie ist es einerseits, gemeinsam mit Frankreich eine »Gegenmacht« zu errichten und andererseits bei der Etablierung einer Nachkriegsordnung im Irak dabei zu sein. Bisher hat die rot-grüne Bundesregierung den weltpolitischen Aufstieg vor allem militärisch organisiert, also durch die Teilnahme an den bisherigen Kriegen gegen Jugoslawien und Afghanistan. Durch das Agieren im Irakkonflikt wurde die neue Position Deutschlands nun diplomatisch abgesichert, sodass in der Weltpolitik nun keiner mehr an Deutschland vorbeikommt. Die Bundesregierung ist nicht aus altruistischen Gründen gegen Krieg, sie hat in der Golfregion und darüber hinaus einfach andere Interessen als die US-Regierung. Diese Schröder-Linie wird von den zentralen Medien in Deutschland mitgetragen. Auch deshalb war es so ruhig, als Peter Struck Klartext redete und für die Bundeswehr eine »strategische Neuausrichtung« verkündete.
Bleibt zu klären, was diese »strategische Neuausrichtung« der Bundeswehr bedeutet. Die Gesamtstärke der Bundeswehr soll weiter reduziert werden: Zielgröße sind 280000 SoldatInnen, wobei sich Peter Struck »offen« gezeigt hat für den Vorschlag des ehemaligen Heeresinspekteurs Helmut Willmann mit einer Truppenstärke von 240000. Der Kernbereich der Bundeswehr, die so genannten Einsatzkräfte, sollen 150000 SoldatInnen betragen. Was bei der Bundeswehr stattfindet, ist eine quantitative Abrüstung und eine »qualitative Aufrüstung«. Ziel der Umstrukturierungen ist eine zur Kriegführung fähige Interventionsarmee. In den Worten von Peter Struck heißt das: eine »Neuausrichtung der Bundeswehr jenseits von der Landesverteidigung hin zu einer territorial unabhängigen Krisenbewältigung.«
Der Militärhaushalt wurde zu diesem Zweck von Gesamtkürzungen ausgenommen und auf 24,4 Milliarden Euro für die Jahre 2003 bis 2006 festgeschrieben. Wobei dies nur der offizielle »Verteidigungs«-Haushalt ist, dazu kommen noch zirka 25 Prozent dieser Summe an zusätzlichen Ausgaben, die in anderen Haushalten versteckt sind. Es findet eine interne Umschichtung des Militäretats statt, bei der der so genannte investive Bereich, also der Kauf von Kriegsmaterial, kontinuierlich erhöht wird. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurden seit Amtsantritt 1998 Verträge »zur Verbesserung der Fähigkeiten der Bundeswehr« in Höhe von rund 14 Milliarden Euro abgeschlossen. Bei den Beschaffungsprojekten findet eine Umschichtung statt, die das Ziel hat, die Interventionsfähigkeit der Bundeswehr weiter zu steigern.
Struck hat nun festgelegt, dass folgende Großbeschaffungen durchgeführt werden sollen: Neue Schützenpanzer, Gepanzerte Transport-Kraftfahrzeuge, Führungsinformationssysteme, Bewaffnung für die neuen Korvetten, Entwicklung und Beschaffung von unbemannten Luftfahrzeugen, Entwicklung eines »Taktischen Luftverteidigungssystems«, die so genannte »Rollenanpassung« des Eurofighters sowie Beschaffung von spezieller Ausrüstung für die in der Division Spezielle Operationen zusammengeschlossenen Sondereinheiten der Bundeswehr wie das Kommando Spezialkräfte. Gleichzeitig werden weniger Kampfhubschrauber vom Typ Tiger angeschafft, die Flugabwehrraketenverbände Hawk und Roland werden außer Dienst gestellt, dafür mehr Patriots angeschafft. Das Kommando Spezialkräfte soll auf 400 einsatzbereite Soldaten erhöht werden.
Zentraler Punkt der Strategieveränderung sind die in Arbeit befindlichen Verteidigungspolitischen Richtlinien, die im Mai vorgelegt werden sollen: Offiziell bekannt sind davon aber bisher nur elf Kriterien, die Peter Struck mit folgender Einleitung bekannt gegeben hat: »Sie wissen, dass seit Jahren vorrangig Aufgaben im Rahmen der internationalen Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung die Einsatzrealität der Bundeswehr bestimmen. Meine weiteren Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass der Schwerpunkt der Aufgaben der Bundeswehr auf absehbare Zeit im multinationalen Einsatz und jenseits unserer Grenzen liegen wird.«
Inoffiziell sind weitere Punkte der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien bekannt: Schneiderhan teilte in diversen Interviews teils verklausuliert, teils offen mit, dass in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien das Präventivkriegskonzept enthalten sein soll, das jetzt die Grundlage für den Irakkrieg lieferte. Kernelement der National Security Strategy der USA, besser bekannt als Bush-Doktrin, ist genau dieses Präventivkriegskonzept, das besagt, dass die US-Regierung bereit ist, Staaten oder nichtsstaatliche Akteure anzugreifen, wenn sie durch diese ihre Interessen bedroht sieht. Insofern ist der Irakkrieg auch ein Testlauf für das neue Präventivkriegskonzept.
Am Rande der wichtigen NATO-Tagung am 21. und 22. November in Prag wurde unter den Regierungschefs und NATO-VertreterInnen en passant diskutiert, ob die Präventivkriegsstrategie in ihren Kernteilen von der NATO als Strategie übernommen werden solle.
Der »Parlamentvorbehalt«, der bislang in Deutschland einer Übernahme des Präventivkriegkonzepts im Wege steht, ist CDU/CSU und Bundesregierung schon lange ein Dorn im Auge: Deshalb hat Peter Struck nun verkündet, dass im Lauf des Jahres ein so genanntes Entsendegesetz zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr verabschiedet werden solle. Ziel ist, dass der Bundestag weiterhin über Auslandseinsätze entscheidet, aber die Regierung alleine die Mandatsverlängerung bewilligen kann. Wenn es also Probleme bei einem Einsatz gibt, kann der Bundestag diesen gar nicht mehr stoppen. Musterbeispiel dafür ist Enduring Freedom: Am 16. November 2001 wurde das Mandat mit der Vertrauensfrage durchgepeitscht. Am 15. November 2002 hat die Bundesregierung im Bundestag relativ geräuschlos eine Verlängerung des Mandats erreicht, obwohl der Auftrag in mehreren Bereichen (z.B. Kommando Spezialkräfte in Afghanistan, Marine am Horn von Afrika) deutlich ausgeweitet wurde. Teil des Beschlusses sind auch ABC-Abwehrsoldaten in Kuwait, deren Teilnahme beim Irakkrieg sehr wahrscheinlich ist. Die tschechischen Soldaten der gleichen Einheit sind schon von den USA angefordert worden.
Tobias Pflüger ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.