Hinter dem Pseudonym Luther Blissett stecken vier Italiener: Federico Guglielmi, Luca Di Meo, Giovanni Cattabriga und Fabrizio P. Belletati. Sie gehören zum Kollektiv Wu Ming, das sich selbst als »Labor für die Gestaltung von Literatur in verschiedenen Medien« bezeichnet (zur Selbstdarstellung des Kollektivs siehe www.wumingfoundation.com). Wu Ming ist chinesisch und bedeutet »kein Name«. Diesem Konzept, in dem Copyright und bürgerliche Vorstellungen von geistigem Eigentum abgelehnt werden, ist auch das Pseudonym »Luther Blissett« verpflichtet (siehe www.lutherblissett.com). Die vier Autoren sind der Kern des 2000 beendeten Luther-Blissett-Projekts. Dabei ist »Luther Blissett« nicht einfach ein Kollektivpseudonym, sondern Ausdruck einer künstlerischen multitude, die dem Bewusstsein der globalen Gemeinschaft aller Menschen Ausdruck verleihen soll. Das Projekt kommt aus dem Dunstkreis der italienischen No-Global-Bewegung.
Der Roman Q entführt uns in das Europa des 16. Jahrhunderts, vornehmlich nach Deutschland. Warum verschreiben sich Leute mit einem so ausgeprägt postmodernen Selbstverständnis dem klassisch modernen Genre des historischen Romans? Die Erklärung liegt vielleicht darin, dass das beginnende 21. Jahrhundert von vielen Menschen ebenso als Übergangszeit empfunden wird wie das 16. Jahrhundert. Damals begann der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, in unserem Jahrhundert sehen viele Menschen die Chance, vom globalisierten Kapitalismus zu einer »anderen Welt« überzugehen. Ob diese Analogie nun richtig oder falsch ist, wird die Zukunft zeigen, sie erklärt zumindest das Interesse für das 16. Jahrhundert.
Der Roman erstreckt sich fast über ein halbes Jahrhundert, von den Anfängen der Reformation in Wittenberg 1517 über den Bauernkrieg 1525, das TäuferInnenreich in Münster 1534, das Konzil von Trient, das die katholische Gegenreformation einleitete, bis zum Exil der Hauptperson in Istanbul 1555. Die Hauptfigur des Buches hat keinen und viele Namen: Brunnengert, Lot, Tiziano usw. Seine Namen sind so austauschbar wie Luther Blissett und Wu Ming. Der Protagonist ist zunächst ein Anhänger Luthers. Als dieser sich den Fürsten zuwendet, schließt er sich Thomas Müntzer an und erlebt dessen vernichtende Niederlage bei Frankenhausen 1525. »Omnia sunt communia«: »Alles gehört allen«, diesem kommunistischen Prinzip ist Müntzer ebenso wie die TäuferInnen verpflichtet, denen der Held sich nach Müntzers Hinrichtung anschließt. Die TäuferInnen sind eine radikal-reformatorische Bewegung. Sie lehnen die Erwachsenentaufe ab, propagieren das Leben in Kommunen propagieren und erwarten das baldige Ende der Welt. In Münster erlangen sie 1534 die politische Macht, die aber von ihren Führern Jan Matthys und Jan van Leiden, zwei historischen Personen, missbraucht wird. Das Experiment von Münster endet im Blutbad. Danach geht es quer durch die TäuferInnengemeinden in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Italien. Dort verbündet sich die Hauptperson mit aus Spanien und Portugal geflohenen Juden, um in Italien die Ideen der Reformation zu verbreiten. Alle Vorhaben des namenlosen Mannes mit den vielen Namen scheitern. Alle seine WeggefährtInnen werden zum Opfer der blutigen Rache der Herrschenden.
Sein Gegenspieler ist Q: das steht für Qohelet, ein Buch des Alten Testaments, das auch als »Kohelet«, »Ekklesiastes« oder »Prediger Salomo« bekannt ist. Dieses Buch verbreitet Fatalismus (1,9: »Es gibt nichts Neues unter der Sonne.«; 3,1 ff: »Alles hat eine bestimmte Zeit: eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden «), Obrigkeitsgläubigkeit (8,2: »Achte auf die Befehle des Königs, und zwar im Hinblick auf den vor Gott geleisteten Eid.«) und Frauenfeindlichkeit (7,26: » schlimmer als der Tod sei die Frau.«). Deswegen eignet sich der Name Qohelet wohl ganz gut für einen Spion des Chefs der römischen Inquisition: Giovanni Pietro Carafa. Auch dieser ist eine historische Person, die als Paul IV. von 1555 bis 1559 Papst war. Q folgt dem Namenlos-Vielnamigen wie ein Schatten. Überall wo er ist, ist Q auch und richtet Unheil an, denn er treibt die Anhänger des radikalen Flügels der Reformation zu unverantwortlichen Taten und liefert sie so der blutigen Rache der Fürsten aus. Das ist zwar sehr verschwörungstheoretisch, aber für einen Roman vertretbar, denn es erhöht die Spannung ungemein. Erst spät wird die Identität des Erzfeindes geklärt.
Die Erzählform verlangt den LeserInnen einiges ab. Die Handlung wird nicht streng chronologisch erzählt, es gibt Rückblenden und zeitliche Sprünge. Erzählt wird entweder aus der Perspektive des vielnamigen Namenlosen oder es werden die Briefe des Q an seinen Herrn Carafa oder sein Tagebuch dargeboten. Ein allwissender Erzähler fehlt. Das aber macht gerade den Reiz des Buches aus. Denn der/die LeserIn weiß nie mehr als die beiden Hauptpersonen. Bis zum Showdown
Das Buch ist nicht nur ein historischer Roman. Es zeichnet sich zwar durch ein enormes historisches Wissen der Autoren aus, das auch HistorikerInnen zu überzeugen vermag, aber darüber hinaus ist es auch ein spannender Abenteuerroman, ein Entwicklungsroman und eine Art Schlüsselroman. Die Autoren haben es zwar nicht bestätigt, aber einige InterpretInnen wollten hinter den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Strömungen der Reformation die Differenzen zwischen den Fraktionen der Antiglobalisierungsbewegung entdecken und einige sahen sogar im Martin Luther des Buches den Chef der italienischen Sozialdemokratie Massimo d'Alema. Vermutlich ist es aber eher so, dass Prozesse in sozialen Bewegungen sich über die Jahrhunderte immer ähnlich sehen und dass auch schon im 16. Jahrhundert aus RevolutionärInnen recht schnell Verbündete der Herrschenden werden konnten. Aber das Wiedererkennen der Gegenwart in der Vergangenheit ist sowieso einer der Hauptgründe für die Beschäftigung mit Geschichte.
Der Roman Q ist ein interessantes, gut geschriebenes, spannendes und in jeder Hinsicht lesenswertes Buch, das man gar nicht mehr aus der Hand legen mag, wenn man es einmal angefangen hat zu lesen.
Luther Blissett: Q, Piper, München 2002, 22,90 Euro.