Links, zwo, drei, viele

In Uruguay hat das linke Wahlbündnis einen Sieg errungen. Doch die eigentlichen Probleme kommen erst jetzt. Gerade die Schuldenpolitik dürfte die erste harte Bewährungsprobe für den neuen Präsidenten werden. Von Stefan Thimmel

In der Nacht zum 1. November versank fast ganz Montevideo in einem rot-blau-weißen Rausch. Überall wehten die Fahnen der Frente Amplio (FA), deren AnhängerInnen aus ganzem Herzen feierten und immer wieder skandierten: »Wir sind die Frente!« Die Identifikation mit der FA, der treibenden Kraft des Bündnisses Progressive Vereinigung - Breites Bündnis - Neue Mehrheit, ist enorm. Mit 50,7 Prozent der Stimmen erreichte deren Spitzenkandidat Tabaré Vázquez bereits im ersten Wahlgang die notwendige absolute Mehrheit. Mehr als die Hälfte der rund 2,5 Millionen wahlpflichtigen UruguayerInnen entschied sich für den Wechsel.

Die konservative Colorado-Partei, die allein im vergangenen Jahrhundert 17 Mal den Präsidenten gestellt und den Staat seit dessen Gründung im Jahre 1825 als persönliches Eigentum erachtet hatte, erreichte lediglich zehn Prozent und ist erst mal abgemeldet. Eine verheerende Niederlage für den noch amtierenden Präsidenten Jorge Batlle, der bei seinem Amtsantritt im März 2000 ein »gobierno divertido« (etwa: unterhaltsame, lustige Regierung) versprochen hatte, aber in der seit 2002 fortdauernden dramatischen Wirtschaftskrise völlig versagte. Auch für seinen Vorgänger Julio María Sanguinetti, den eigentlichen starken Mann der Partei, ist das Ergebnis ein Desaster. Die andere konservative Traditionspartei, die Blancos, die sich vor zwei Jahren aus der Koalition mit den Colorados zurückgezogen hatte, erreichte immerhin 34 Prozent.

Die vor 33 Jahren gegründete Frente Amplio ist das älteste linke Bündnis Lateinamerikas, das KommunistInnen, TrotzkistInnen, SozialistInnen, ehemalige Stadtguerillas und ChristdemokratInnen vereint. 1971, bei ihrer ersten Teilnahme an Wahlen, die schon unter dem Eindruck einer zunehmenden Repression stattfanden, erreichte sie 18 Prozent. Während der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 wurden die AktivistInnen der Frente verfolgt, viele wurden ermordet oder »verschwanden«.

Nach 1985 entstand das Wahlbündnis Progressive Vereinigung, und bei den diesjährigen Wahlen beteiligte sich auch die sozialdemokratische Partei Neue Mehrheit an der gemeinsamen Kandidatur. Neben ihrer Verankerung in der Basis gehört zu den Besonderheiten der FA, dass sie fast zwanzig Organisationen und Fraktionen bündelt und dabei so pluralistisch wie geschlossen auftritt. Nicht gerade typisch für Lateinamerika. Im Wahlkampf konnte das Bündnis souverän die gegnerische Kritik zurückweisen, die sich vor allem auf Danilo Astori konzentrierte, den sozialliberalen Anwärter der Frente für den Posten des Wirtschafts- und Finanzministers. Abwehren konnte man auch die wütende Kampagne der Colorados gegen die ehemaligen Militanten der Tupamaros in den Reihen der FA.

Doch die eigentliche Aufgabe steht ihr erst bevor: Ihre im Kampf gegen die Rechte gewonnene Einigkeit in der Regierung zu beweisen und zugleich die in sie gesetzten Hoffnungen nicht zu enttäuschen. Schon jetzt zeichnen sich interne Differenzen ab, vor allem zwischen Astoris sozialliberaler Gruppe und der vom populären Senator José »Pepe« Mujica angeführten Bewegung für eine Volksbeteiligung (MPP).

Astori will sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik der brasilianischen Regierung zum Vorbild nehmen. »Die Erfahrung der Regierung unter dem Präsidenten Lula zeigt den Uruguayern, dass die Linke an die Macht gelangen und Veränderungen durchführen kann, ohne jemanden zu verschrecken. Auch die Linke ist in der Lage, die Inflation einzudämmen und den Verpflichtungen gegenüber internationalen Organisationen nachzukommen«, sagt Astori. Kritisch gemeint ist das nicht.

Dem steht die Haltung Mujicas gegenüber, einem der GründerInnen der Stadtguerilla Tupamaros, der 13 Jahre in Haft verbrachte, davon sieben als staatliche Geisel in Einzelhaft, zeitweise in einem Erdloch eingegraben. Mujica bekräftigte am Wahlabend, was er zuvor immer wieder erklärt hatte: »Wir müssen verhandeln, neu verhandeln und wieder verhandeln, weil wir eine Verschuldung haben, die unbezahlbar ist.« Mit 12,8 Milliarden US-Dollar steht Uruguay in der Kreide, und Mujica ist davon überzeugt, dass man diese Auslandsschulden nicht abtragen könne, was auch den internationalen Organisationen klar sei. Die Schuldenpolitik dürfte die erste harte Bewährungsprobe für Tabaré Vázquez werden, wenn er im März sein Amt antritt.

Vázquez selbst hat sich in der Debatte über das Verhältnis zu Internationalem Währungsfonds und Weltbank, die in Uruguay ebenso unbeliebt sind wie bei den argentinischen NachbarInnen, zurückgehalten. Für ihn haben die Bekämpfung der Korruption und die Schaffung von Arbeitsplätzen oberste Priorität. »Wir werden eine ehrliche Regierung sein. Wir können Fehler machen, das ist menschlich. Aber wir werden uns niemals bestechen lassen, niemand wird in die Kasse greifen«, lautet sein Versprechen. Neue Jobs will er durch die Wiederbelebung der landwirtschaftlichen Produktion, die Förderung kleiner Betriebe und Investitionen in die Bildung schaffen.

Als Sofortmaßnahme soll der monatliche Mindestlohn, der derzeit achtzig US-Dollar beträgt, angehoben sowie finanzielle Leistungen für die etwa 100000 UruguayerInnen eingeführt werden, die in absoluter Armut leben. Zu den weiteren Programmpunkten der designierten Regierung zählen: eine Reform des desolaten Gesundheitswesens und eine Rücknahme der Privatisierungen in der Gesundheitsversorgung, eine Revision des Steuerrechts, die Verbesserung des Arbeitsschutzes sowie die Unterstützung der KleinbäuerInnen. Anders als in Brasilien geht es nicht vordringlich um eine Landreform, sondern um finanzielle und sonstige Unterstützung der BäuerInnen und LandarbeiterInnen. Zudem spricht sich Vázquez für eine Stärkung der direkten Partizipation aus. Schon 1990 bis 1995, in seiner Zeit als Bürgermeister von Montevideo, hatte er Elemente der direkten Mitbestimmung eingeführt.

Auch die Landesverfassung bietet die Möglichkeit zu Volksentscheiden, mit denen in den vergangenen Jahren wiederholt Privatisierungsvorhaben der neoliberalen Regierungen gestoppt werden konnten. Zuletzt am Wahltag: 62 Prozent der UruguayerInnen stimmten bei dem parallel laufenden Plebiszit dafür, Zugang zu Wasser als Menschenrecht in der Verfassung zu verankern, um damit eine Privatisierung der Wasserversorgung zu verhindern.

Viel Zeit bleibt wegen der riesigen Erwartungen der Menschen und der trotz eines leichten Aufschwungs noch immer desolaten Wirtschaftslage nicht. Vor allem Mujica drückt aufs Tempo. »Dieses Volk ist nicht mehr in der Lage, lange zu warten. Es braucht Taten. Und es soll mir niemand kommen mit Utopien, die in fünfzig Jahren Realität werden. Wir müssen die Probleme heute lösen. In den ersten sechs, sieben Monaten müssen wir alles erreichen und das danach fünf Jahre lang verteidigen. Ich bin es satt, immer zu hören, das geht nicht und das auch nicht, und zum Schluss geht gar nichts.«

Der Artikel erschien zuerst in Jungle World 47/2004, www.jungle-world.com.