Sicherlich sind europapolitische Entscheidungen komplexer Natur, da unterschiedliche, ja gegensätzliche Motive sich in einer gemeinsamen Ablehnung oder Zustimmung bündeln können - und dies nicht nur in Frankreich. Man kann die politische Grundkonstellation als eine Art Koordinatenkreuz darstellen: Auf der einen Achse steht »Mehr nationale Souveränität oder mehr europäische Integration«. Auf dieser Ebene ist die Opposition von rechts gegen das supranationale Europa, oder »zu viel« davon, angesiedelt. Der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler steht ebenso für eine solcherart motivierte Ablehnung wie die Franzosen Jean-Marie Le Pen und Philippe de Villiers.
Doch zu einem richtigen Koordinatenkreuz gehört noch eine zweite Achse, die quer zur anderen liegt, und auf der steht: »Wirtschaftsliberales oder soziales Europa«. Es ist diese Dimension, die bei der Abstimmung über die EU-Verfassung in Frankreich entscheidend war. Die AnhängerInnen der Rückkehr zur nationalstaatlichen Souveränität erschienen im zurückliegenden Wahlkampf vorwiegend als VertreterInnen eines Anachronismus. Sie schlugen vor, in einen Zug einzusteigen, der längst nicht mehr auf dem Fahrplan steht: Seit dem Euro gibt es keine nationale Währungspolitik mehr, die Osterweiterung der EU wird auch durch das Ergebnis des Volksentscheids vom 29. Mai nicht rückgängig gemacht werden.
Was der »Verfassung« genannte Staatsvertrag dazu vorschlug, konnte die Mehrheit der französischen WählerInnen nicht befriedigen. Soziale Probleme und individuelle politische Rechte sollen weiterhin den Nationalstaaten überlassen bleiben, und nur der Markt und die Konkurrenz sollten die Bevölkerungen der EU miteinander verbinden: So schließt der Verfassungsvertrag explizit eine Angleichung der sozialpolitischen Gesetzgebung der verschiedenen EU-Länder aus, eine »Harmonisierung« auf diesem Gebiet soll allein einer vermeintlichen spontanen Entwicklung der Gesetzgebungen auf jeweils nationaler Ebene überlassen bleiben. Und bei den BürgerInnenrechten bringt der Vertrag denen, die beispielsweise noch immer kein Recht auf Ehescheidung oder Abtreibung haben - in Polen, Portugal, Irland oder Malta - keinerlei Fortschritt. Gesellschafts- und Sozialpolitik im nationalen Rahmen, überwölbt von einem transnationalen Markt: Nein, dieses Europa wollten die Franzosen und Französinnen mehrheitlich nicht.
Unbestreitbar ist die soziale Polarisierung, die dem Votum zugrunde liegt. 75 bis 81 Prozent der IndustriearbeiterInnen und 79 Prozent der Erwerbslosen stimmten gegen die Annahme des Verfassungsvertrags. Hingegen votierten vier Fünftel der leitenden Angestellten und ManagerInnen mit »Ja«, das ansonsten nur unter höheren Angestellten, UnternehmerInnen und Selbstständigen in der Mehrheit war. Und bei den über Sechzigjährigen, für die ein Votum über den vorgeschlagenen Verfassungsvertrag oftmals subjektiv gleichbedeutend mit einem Votum »für Europa« und damit »für den Frieden nach 1945« war.
Wenn in der von ihren »kleinen Leuten« aufgrund der Mietpreisentwicklung der letzten dreißig Jahre größerenteils »gesäuberten« Hauptstadt Paris 66 Prozent der WählerInnen mit »Ja« stimmen (achtzig Prozent im großbürgerlichen 16. Arrondissement) und in den nördlich angrenzenden Trabantenstädten weit über sechzig Prozent mit »Nein«, dann ist dies ein deutliches Signal. Zumal die Stimmbeteiligung vor allem auch in ArbeiterInnen- und Unterschichtsbezirken so hoch war, wie seit zwanzig Jahren bei fast keiner Wahl, und vor allem bei keiner Europaparlamentswahl. Mehrheitlich mit »Ja« stimmten nur die traditionell durch eine christdemokratische und »pro-europäische« politische Tradition geprägten Regionen Bretagne und Elsass (62,9 Prozent in Straßburg).
Und auch andernorts träumen Menschen von etwas Anderem als nackter Konkurrenz, wenn sie an grenzüberschreitende Solidarität denken. In Wien, in Berlin und in belgischen Städten gingen spontan Menschen auf die Straße und zogen vor die französischen Botschaften, um das »Non« zu feiern. Zahlreiche Linke, GewerkschafterInnen und Attac-AktivistInnen aus anderen EU-Ländern waren zuvor nach Frankreich gekommen, um zu sagen: »Euer Nein ist unser aller Nein«.
Die britische Ratspräsidentschaft der EU im zweiten Halbjahr 2005 wird nun zweifellos versuchen, eine andere Lehre aus dem »Non« zu ziehen: Zu viel politische Integration ist ohnehin schädlich, beschränken wir die Union auf einen großen Markt, dann geht es auch ohne »Verfassung«. Dem gilt es entgegen zu steuern: Wenn jene, die sozial- und wirtschaftspolitische Kritik an dem Vertragswerk übten, sich jetzt auf dem Ergebnis ausruhen und nichts unternehmen sollten, dann wird das von ihnen Befürchtete zweifellos auf anderem Wege Wirklichkeit werden. Denn auch ohne Verfassungsvertrag könnte es ein neoliberales Europa geben - nein, es existiert bereits.
Bernhard Schmid lebt und arbeitet als freier Journalist in Paris.