Filmgewordene Selbsttherapie

In Tarnation erzählt Jonathan Caouette die Geschichte seiner Familie Von Carolin Wedekind

Der Regisseur und Schauspieler Jonathan Caouette ist Anfang dreißig, als er am Telefon von der Lithium-Überdosis seiner Mutter Renee erfährt. Ob sie überleben wird, bleibt zunächst unklar, und Caouette beginnt, die Vergangenheit seiner Mutter aufzuarbeiten. In Tarnation setzt er sich mit ihrer und seiner eigenen Geschichte auseinander.

Diese wird durch eingeblendete Texte nüchtern in der dritten Person erzählt und beginnt im texanischen Houston, wo Renee zunächst glücklich aufwächst. Als sie im Alter von zwölf Jahren nach einem Sturz vom Garagendach zeitweilig gelähmt ist, ändert sich ihr Leben. Als Ursache der Lähmung wird eine psychische Krankheit diagnostiziert. Auf Empfehlung der Ärzte lassen Renees Eltern sie mit Elektroschocks behandeln, wovon sie sich nie völlig erholt. Sie erkrankt an einer schizophrenen Störung und verbringt große Teile ihres Lebens in Krankenhäusern und Psychiatrien. Der Versuch der jungen Mutter, mit Jonathan allein in Chicago zu leben, scheitert nicht zuletzt daran, dass sie Opfer einer Vergewaltigung wird. Schließlich zieht Renee zurück zu ihren Eltern. Jonathan lebt in Heimen und wird von seinen Pflegefamilien misshandelt, bevor ihn seine Großeltern adoptieren. Mit 14 entwickelt er eine Persönlichkeitsstörung, durch die er den Eindruck hat, von seinem Körper getrennt zu sein.

Diese Fülle von privaten Fakten illustriert Caouette mit einer verstörenden Mischung aus alten Familienfotos, Verzerrungen und Lichteffekten. Vor allem beeindruckt Tarnation mit seinen schonungslos persönlichen Filmaufnahmen. Seit seiner Kindheit dokumentiert Caouette mit der Kamera sein Leben. Als Elfjähriger inszeniert er sich beispielsweise als misshandelte Ehefrau, als Erwachsener konfrontiert er seine Großeltern mit ihren Fehlern. Die Kamera schaltet er selbst dann nicht ab, als sein Großvater sich sichtlich von Jonathans Fragen belästigt fühlt.

Trotz der bedrückenden Geschichte ist Caouette jedoch vor allem hoffnungsvoll. Sein bewegender Dokumentarfilm wirkt wie eine Selbsttherapie und ist gleichzeitig eine Liebeserklärung Caouettes an seine Mutter.

Tarnation. USA 2003. Regie: Jonathan Caouette. DarstellerInnen: Jonathan Caouette, Renee LeBlanc u.a.