Der Priester hält einen großen weißen Staubwedel in der Hand. Mit langsamen Bewegungen schwenkt er ihn von rechts nach links. Dann erst schlägt er das schwere Tuch aus rotem Samt zurück und legt das Guru Granth Sahib, die heilige Schrift der Sikhs, frei. Jedes Mal, wenn er das Buch aufschlägt, wiederholt er diese Prozedur, mit der die Reinigung der Luft symbolisiert wird. Seit einem Jahr ist Kuldeep Singh Priester der Sikh-Gemeinde in Köln-Buchforst, der etwa 600 Sikhs angehören. Jedes Wochenende treffen sie sich im Tempel in der Kalk-Mülheimer Straße, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Von der Öffentlichkeit bleiben sie dabei nahezu unbemerkt. Dabei besteht ihr Tempel in Buchforst seit 15 Jahren, zwei weitere gibt es in der Südstadt und in Bickendorf. Das Wort Sikh kommt aus dem Sanskrit und bedeutet soviel wie »Schüler«. Die Sikhs verstehen sich als SchülerInnen Gottes und orientieren sich an den Lehren von zehn Gurus. Als Ausdruck der Geschwisterlichkeit tragen alle männlichen Sikhs den gemeinsamen Nachnamen Singh, zu Deutsch Löwe. Die Frauen heißen Kaur, das heißt Prinzessin. Etwa 10000 Sikhs gibt es in Deutschland. Wie viele davon in Köln leben ist unbekannt, da keine Statistik ihre Anzahl erfasst. Kuldeep Singh schätzt, dass es in Köln etwa 2000 Familien gibt, die Sikhs sind. Ihr zentrales Heiligtum ist der Goldene Tempel in Amritsar im indischen Bundesstaat Punjab, wo etwa achtzig Prozent aller Sikhs leben. Er wird täglich von mehreren tausend PilgerInnen besucht. Seine Palastanlage hat Tore zu allen vier Seiten. Das soll zeigen, dass Sikhs allen Religionen und Menschen gegenüber aufgeschlossen sind. Dieser Grundsatz gilt auch im Tempel in Buchforst. Jejar Singh kommt regelmäßig dorthin. Der 25-Jährige stammt aus Panjab und wohnt seit sechs Jahren in Köln. »Ich bin kein echter Sikh. So wie er sieht ein echter aus«, lacht Jejar Singh und zeigt auf den Priester. »Er trägt die fünf Zeichen eines echten Sikhs.« Diese fünf Zeichen sind langes Kopfhaar und ein langer Bart, weite Unterhosen, die bis zu den Knien reichen, ein kleiner Dolch, ein Armreif aus Stahl und ein Kamm. Jedes der Zeichen birgt eine eigene Symbolik, die für eine Tugend der Sikhs steht. So bedeutet etwa der Kamm, den jeder Sikh in seinem Turban trägt, Reinlichkeit. Der kleine Dolch ist nicht als Waffe gedacht, sondern als religiöser Gegenstand, der den Kampf der Sikhs gegen Ungerechtigkeit symbolisiert. Die weiten Unterhosen stehen für sexuelle Mäßigung, aber nicht für Enthaltsamkeit, wie sie beispielsweise der Katholizismus propagiert. Wie alle BesucherInnen des Tempels, die keinen Turban tragen, hat Jejar Singh ein orangefarbenes Tuch um den Kopf gebunden. Außerdem trägt er keine Schuhe. Die unterschiedlichen Farben der Turbane, die Pags genannt werden, haben nichts mit einem möglichen Standesunterschied der Gemeindemitglieder zu tun. »Alle sind hier gleich, jeder sucht sich die Farbe seines Turbans selber aus«, sagt Jejar Sing. Um kalte Füße muss er sich keine Sorgen machen. Das Innere des Tempels ist mit rotem Teppichboden ausgelegt. Weitere Teppiche und dicke leuchtende Lichterketten gleichen die kühle Atmosphäre aus, die der Raum durch weiße Wandkacheln und spärliches Tageslicht bekommt. In der Mitte steht der etwa zwei Meter breite Altar, auf dem das heilige Buch abgelegt wird. Er ist mit Plastikblumen geschmückt und wird von einem Baldachin überspannt. Jeden Samstag und Sonntag lässt sich die Sikh-Gemeinde auf den Teppichen rund um den Altar nieder, um den Gottesdienst abzuhalten. Wohin man sich setzt, ist egal. Man sollte jedoch nie dem Altar den Rücken zukehren, denn das wäre eine Beleidigung. Dass zum Beisammensein nicht nur das Gebet, sondern auch gemeinsames Kochen und Essen gehört, kann man riechen. Das Aroma indischer Gewürze füllt das Innere des Tempels. Wie jeder Sikh-Tempel hat auch der in Buchforst eine große Küche, in der zu Gottesdiensten oder anderen Festen gemeinsam gekocht wird. Anlässe zum Feiern gibt es in der Gemeinde viele. »Wir feiern ungefähr 15 bis 20 Feste pro Jahr«, erklärt Jejar Singh. Zehn davon sind die Geburtstage der Gurus. Ein Fest im Tempel wird zunächst mit einem Gebet begonnen. Danach wird gemeinsam gegessen und mit Tabla-Trommeln und Harmonium musiziert. Alkohol und Tabak gehören niemals zu einer Feier, denn beides ist für jeden Sikh streng verboten. Das Prinzip der Gastfreundschaft ist fester Bestandteil der Sikh-Religion. Alle BesucherInnen des Tempels werden herzlich willkommen geheißen. Die Sikhs bieten auf Blechgeschirr Linsenbrei, Fladenbrot und süßen Tee mit Milch an. Die heilige Speise, die oft zum Abschied gereicht wird, besteht aus Mehl, Zucker und Butter. Der Geschmack erinnert an einen Teig für Weihnachtsplätzchen. »Alle Religionen sind eingeladen, hierher zu kommen«, sagt Jejar Singh. Er verbeugt sich zur Verabschiedung vor der orangefarbenen Flagge des Tempels, berührt mit den Fingern zuerst seine Lippen und dann die Torschwelle. Das große Schiebetor, den Eingang zum Tempel, lässt er einen Spalt weit geöffnet.
Im Haus der Löwen und Prinzessinnen
Die Glaubensgemeinschaft der Sikhs hat in Köln drei Tempel. BesucherInnen werden dort mit Linsenbrei und süßem Tee bewirtet. Sikh zu sein heißt aber mehr, als Gastfreundschaft zu zeigen.
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