Die Diskussion darüber, wie viel Mitgefühl man deutschen Vertriebenen spenden darf, ohne Opfermythen zu bedienen, hat durch den Fernsehfilm Die Flucht neue Nahrung bekommen. Für die philtrat sprach Kathrin Ohlmann mit dem freien Journalisten und Experten für deutsch-polnische Beziehungen Oliver Hinz über die Klagen deutscher Vertriebener und die Befürchtung vieler Polen, ihren Landbesitz an Deutsche zu verlieren. Der Historiker Peter Steinbach war als Berater für den Fernsehfilm Die Flucht tätig und sagt: »Wir als Historiker müssen lernen, Leidens-, Unterdrückungs- und Verfolgungsgeschichten in ihrer Gleichzeitigkeit wahrzunehmen.« Ist das exemplarisch für den aktuellen Diskurs über die deutsche Geschichte?Ich finde es natürlich legitim, auch die deutschen Opfer zu behandeln. Aber dass der Bundesrat vor wenigen Jahren beschlossen hat, dass es einen nationalen Gedenktag für die deutschen Opfer der Vertreibung geben soll, und dass in diesem Beschluss stand, dass alle Opfer auf eine Stufe gestellt werden müssten, ist ein Skandal. Den Gedenktag gibt es zwar nicht, aber es gibt die Tendenz, dass viele nicht mehr kritisieren, dass man die deutschen Opfer zur sehr in den Mittelpunkt stellt und die anderen vergisst. Ich finde es bedenklich, dass es in Deutschland so wenig Wissen über und so viel Desinteresse an zum Beispiel den polnischen Opfern gibt. Hat sich die deutsche Vertriebenen-Debatte in den letzten Jahren verändert?Ich denke, bei der jetzigen Debatte vergisst man, welche Opfer deutscher Täter und deutscher Verbrechen es gibt. Die Deutschen werden immer mehr als Opfer wahrgenommen. Wie wird diese Entwicklung in Polen gesehen?In Polen wird von sehr vielen, von Politikern, Wissenschaftlern, Presse, angenommen, dass die Deutschen die polnischen Opfer vergessen und nur noch die deutschen Opfer sehen. Aber man kann ja auch sowohl der deutschen als auch der polnischen Opfer gedenken. Theoretisch auch in einem Zentrum gegen Vertreibungen, denn es gibt ja auch polnische Vertriebene. Wenn es gelingen würde, dass man auch die polnischen und die anderen Opfer wahrnimmt, wäre das ein Gewinn und näher an der Wahrheit. Wie werden der Bund der Vertriebenen (BdV) und deren Vorsitzende, die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, in Polen gesehen?Erika Steinbach ist in Polen für die meisten Menschen eine Unperson. Das ist auch verständlich, denn was in Deutschland leider oft vergessen wird, ist, dass Erika Steinbach Anfang der Neunzigerjahre gegen den deutsch-polnischen Grenzvertrag gestimmt hat. Die Gesellschaft Preußische Treuhand will ehemalige Besitztümer und Land von Vertriebenen in den früheren Ostgebieten des Deutschen Reichs einklagen. Wie wird das in Polen gesehen?In einer Umfrage im Juni 2004 sagten 61 Prozent der befragten Polen, dass sie es für wahrscheinlich halten, dass die deutsche Regierung eines Tages ehemalige deutsche Besitztümer und Gebiete zurückfordern wird. Es gab vor einigen Jahren auch schon gewonnene Prozesse von deutschen Spätaussiedlern. Sie sind wieder Eigentümer geworden, und nun müssen die polnischen Bewohner der Häuser Miete an Deutsche zahlen. Weil es solche Fälle gibt, ist es wichtig, dass die deutschen Politiker deutlich machen, dass es nicht ihr Ziel ist, Eigentum und Land zurückzufordern, und klar sagen, dass die Preußische Treuhand nicht für ganz Deutschland spricht. Erika Steinbach distanziert sich von den Entschädigungsforderungen der Preußischen Treuhand, aber es gibt personelle Verstrickungen zwischen dem BdV und der Treuhand. Der stellvertretende Vorsitzende des BdV Hans-Günther Parplies sitzt beispielsweise dort im Aufsichtsrat. Wie sehen Sie Steinbachs Position zur Preußischen Treuhand?Sie distanziert sich von der Preußischen Treuhand, aber eine richtige Trennung gibt es leider nicht. Es gibt eine indirekte Zusammenarbeit, da Steinbach Parplies bisher nicht aus dem BdV-Vorstand ausgeschlossen hat. Aber auch die rot-grüne Bundesregierung hat in dieser Beziehung Fehler gemacht. Deutsche Bundesbehörden haben den deutschen Vertriebenen noch unter der Regierung von Gerhard Schröder nahe gelegt, in Polen zu klagen, um Geld vom Staat zu bekommen. Wenn in Deutschland vergessen wird, wie mitschuldig die deutsche Regierung an diesen Klagen war, dann will man das Problem leider nicht wahrhaben. Viele vergessen, dass die Bundesregierung einmal fast die Position der Preußischen Treuhand eingenommen hat. Welche Position liegt der Ausstellung »Erzwungene Wege«, die vom BdV in Berlin Ende letzten Jahres gezeigt wurde, und dem geplanten Zentrum gegen Vertreibungen zugrunde?Was ich an der Ausstellung vor allem beanstande, sind die Videos, in denen Opfer schildern, was ihnen widerfahren ist. Da tauchen Betroffene aus vielen Ländern auf, natürlich auch deutsche, aber es gibt kein einziges Video von polnischen Vertreibungsopfern, von denen es ungefähr eine Million gegeben hat. Natürlich hat Erika Steinbach als politisches Ziel, dass man in Ewigkeit der deutschen Vertreibungsopfer gedenkt. Sie konnte ihre Ausstellung letztlich in einem Gebäude des Bundes machen, dem Kronprinzenpalais in Berlin. Auch daran sieht man, dass die Kritik und der Widerstand gegen das Zentrum gegen Vertreibungen stark abgenommen haben. Diese Ausstellung war sozusagen der europäischste und unproblematischste Teil des von Erika Steinbach angestrebten Zentrums. Das andere ist dann nur noch der deutsche Teil, die deutsche Sicht und zeigt den Opferstatus der Deutschen.
»Bedenkliches Desinteresse«
Die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs finden in Deutschland zu wenig Beachtung - dafür rücken die deutschen Vertriebenen immer mehr in den Mittelpunkt, sagt der Polen-Experte Oliver Hinz.
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