Im September 2007 nehmen sich der Philosoph André Gorz und seine Frau Dorine das Leben - nach mehr als 57 Jahren Beziehung. Durch den gemeinsamen Freitod geht auf radikale Weise der Wunsch in Erfüllung, den jeweils anderen nicht überleben zu müssen. Mit eben diesem Wunsch endet ein Brief, den Gorz 2006 an seine bereits damals unheilbar kranke Ehefrau schreibt. Er spricht sie im Brief ausschließlich mit dem Initial ihres Vornamens Dorine, nämlich D., an. Das Schreiben, obwohl ursprünglich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, wird bald darauf von dem französischen Verlag Galilé verlegt. Die deutsche Übersetzung Brief an D. ist im Herbst 2007 im Schweizer Rotpunktverlag erschienen und die erste Auflage bereits vergriffen. Man darf sich also fragen, was diesen Brief so lesenswert macht. Zunächst einmal handelt er von der »Geschichte einer Liebe«, so auch der Untertitel, zwischen einer Engländerin und einem österreichischen Juden, die während des zweiten Weltkrieges in der Schweiz beginnt. Der Autor und D. erkennen sich als zwei Entwurzelte und finden in dem jeweils anderen eine Heimat, einen Zufluchtsort. Sie heiraten und ziehen nach Paris. D. ist es, die beide mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Erst nachdem Gorz sich als Philosoph und Journalist einen Namen gemacht und die Zeitung Le Nouvel Observateur gegründet hat, verbessert sich ihre finanzielle Situation. Als D. erkrankt, ziehen beide aufs Land. Brief an D. ist autobiografisch und muss daher auch als Richtigstellung von Gorz' 1958 erschienener Autobiografie Der Verräter gelesen werden, in der er seine Frau unter dem Decknamen »Kay« nach eigener Formulierung »herablassend« beschreibt. Anders als in der Literatur bedarf es in der gelebten Beziehung dieser Richtigstellung nicht. Denn so selbstverständlich wie D. Gorz in der Pariser Anfangszeit unterstützte, so selbstverständlich gibt Gorz, als D. erkrankt, seine journalistische Tätigkeit auf. Er pflegt sie und eignet sich ein umfangreiches medizinisches Fachwissen an, um D.s unheilbare Rückenmarkerkrankung nicht nur zu verstehen, sondern mit ihr gemeinsam zu ertragen. Aber aus Lettre à D, wie das Werk im Original heißt, spricht weit mehr als nur gegenseitige Unterstützung. Es gelingt Gorz, die LeserInnen zwischen den Zeilen lesen zu lassen, dass diese Liebe tatsächlich die Beschreibung »allumfassend« verdient. Eine Liebe, die in alle Tätigkeiten, alles Denken hineinreicht und den früheren Tod des Partners nicht erträgt.