Wahrscheinlich liegt es am schlechten Ruf des Anarchismus, dass anarchistische Ideen in aktuellen Diskussionen um den Wandel der Gesellschaft kaum präsent sind: Jeder tut, was er will, und keiner ist da, der irgendwann sagt: Jetzt ist aber gut.
Mit der Textsammlung 'Neuer Anarchismus' in den USA. Seattle und die Folgen zeigt Herausgeber Gabriel Kuhn, wie diese radikalste unter den linken Utopien einer perfekten Gesellschaft theoretisch weiterentwickelt und den Verhältnissen der Gegenwart angepasst worden ist. Denn im Zuge der Demonstrationen gegen das Treffen der Welthandelsorganisation WTO 1999 in Seattle bekam diese Idee in den USA neue Impulse und lebte ein Stückweit wieder auf. Bereits die Titel der einzelnen Beiträge lassen erkennen, dass es sich bei dem »neuen Anarchismus« nicht um ein homogenes Theoriekonstrukt handelt. Ausgehend von der gemeinsamen Basis haben sich unterschiedliche Ausprägungen entwickelt, die sich teilweise widersprechen. Praktischerweise sorgt der erste Autorenbeitrag, »Die neuen AnarchistInnen« von Daniel Graeber, für etwas Orientierung. Anschließend finden sich ordentlich kategorisiert und mit einer kurzen Einführung in den jeweiligen Komplex nicht nur Texte, die einen modernen Anarchismus als umfassendes Konzept beschreiben, sondern auch solche, die Nischen behandeln. Spätestens bei der Lektüre dieser Texte zeigt sich, dass der Begriff Anarchismus heute offenbar recht breit benutzt werden kann. Nach der hier zugrunde liegenden Definition hat nahezu jede Aktion, die nicht staatlich gesteuert ist, anarchistischen Charakter. Dazu gehören auch profane Dinge wie Straßenbahn statt Auto fahren und auf tierische Produkte verzichten. Etwas albern wird es in der Kategorie »Pagan Anarchism« mit dem Text »Hin zu einer aktivistischen Spiritualität« der Autorin Starhawk. Ideologisch weniger Geschulte hätten dem Buch womöglich einen Titel wie Neue soziale Bewegungen gegeben. Was die vorliegenden Beiträge mit klassischen Texten über Anarchismus aber leider gemeinsam haben, ist der oft unnötig komplizierte Stil. 'Neuer Anarchismus' in den USA ist vor allem ein netter Überblick über zivilgesellschaftliches Engagement, das gerne auch mal etwas extremer ausfallen darf.