Die erste Frage nach der Identität eines Menschen entscheidet sich zwischen den Beinen. Wer dort etwas hat, ist männlich. Wer dort nichts hat, ist weiblich. Oder? Das ist natürlich falsch. Denn wo Männer etwas haben, haben Frauen nicht nichts, sondern - eine Vulva. In ihrer Kulturgeschichte erläutert Autorin Mithu M. Sanyal, wie es zu diesem Missverhältnis kommt: Während Eigenschaften, die dem Penis und seinen Trägern zugeschrieben werden, in unserem kulturellen Bewusstsein einen festen Platz einnehmen, bleibt das weibliche Genital nahezu unsichtbar.
So spricht eine Frau, die ihr Geschlecht beim Namen nennen will, in der Regel von einem Nichts. Denn das häufig verwendete Wort "Vagina" bezeichnet eigentlich nur ein Loch, nämlich die schlauchförmige Verbindung zwischen Vulva und Gebärmutter. Schamlippen und Klitoris sind in diesem Bild des weiblichen Genitals nicht vorhanden. Kein Wunder, dass die wenigsten Frauen in der Lage seien, ihre Vulva zu zeichnen, findet Autorin Sanyal. Das männliche Genital zu zeichnen, sei dagegen meist kein Problem.
Für die Kulturwissenschaftlerin hat die Abwesenheit der Vulva im modernen abendländischen Bewusstsein weitreichende Folgen für Selbstverständnis und Fremdbild heutiger Frauen. Denn Geschlecht und Identität sind eng miteinander verbunden. Wird die Vulva als Hauptmerkmal weiblicher Identität ausgelöscht, so muss dies für Frauen ein ernstes Problem darstellen.
Sanyal zeigt, dass die Unsichtbarkeit des weiblichen Geschlechts das Ergebnis einer langen kulturhistorischen Entwicklung ist. Anschaulich und unterhaltsam holt sie die längst vergangenen Kulte einer geheiligten Vulva aus dem Verborgenen hervor. Mit dem Aufkommen der männerzentrierten monotheistischen Religionen war sie aus dem Symbolfeld des Heilenden, Freude und Leben Spendenden in die Abgründe von wollüstiger Sünde, Verderbnis und Tod verdrängt worden. Beim Lesen verwandelt sich die biblische Ursünderin Eva zurück in die Erdgöttin Heba, die ihrem Gefährten durch den Genuss ihrer Feige, das heißt ihrer Vulva, ewiges Leben im Paradies schenkt.
Der vielfach geküsste Meteoritenstein an der Kaaba in Mekka wird wieder zur Vulva der Mondgöttin Al'Uzza, die in vorislamischer Zeit dort um Gesundheit und Fruchtbarkeit angebetet wurde. Und die griechische Göttin Iambe schafft es als Einzige auf dem Olymp, die trauernde Erntegöttin Demeter zu trösten und so die Menschheit vor dem Hungertod zu retten - indem sie ihr ihre Vulva zeigt.