Am 14. Januar verjagte die tunesische Bevölkerung den seit 23 Jahren regierenden Diktator Ben Ali. Ende März flog ich für eine Woche nach Tunesien, um mir vor Ort ein Bild von der Revolution zu machen. Von dem Feuer in den Augen der TunesierInnen über den Neubeginn und den Umbruch, das man sich vorgestellt hätte, war jedoch wenig zu sehen. Statt dessen Frust, der sich bereits zwei Monate nach dem Sturz des Ben Ali-Regimes bei vielen breit gemacht hatte. Auf den Straßen der Hauptstadt Tunis war bis auf einige stacheldrahtumzäunte Panzer und zahlreiche »Ben Ali dégage!«-Graffitis (Ben Ali, verpiss dich!) wenig von der Revolution zu sehen.
Dennoch erlebte ich zwei für deutsche Verhältnisse ziemlich erregte Demos durch das Stadtzentrum - im Marschtempo, fast wie Joggen. Die erste Demonstration wurde von der unter Ben Ali jahrelang verbotenen islamistischen an-Nahda Bewegung angeführt, die inzwischen auch eine Partei gegründet hat. Die zweite Demonstration organisierte ein unabhängiges Bündnis unterschiedlicher Parteien und Gruppen. Es verlangte den Rücktritt des neuen Innenministers, mit der Begründung, dass er ein Mann des alten Regimes sei.
Vor allem die Jugendlichen und arbeitslosen jungen Erwachsenen, die sich die Straßenschlachten mit der Polizei geliefert und zuvor die Villen der ParteifreundInnen Ben Alis geplündert hatten, sind weiterhin unzufrieden. Sie sind nach wie vor arbeits- und perspektivlos und gingen daher wieder auf die Straße.
Diese Demonstrationen zeigen eine wichtige Errungenschaft der Revolution - die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Genau das war auch die Antwort vieler TunesierInnen, die ich auf der Straße, in den Cafés und Bars und im Bus mit Fragen in der Amtssprache Französisch löcherte. Ich wollte wissen, was sich denn konkret für sie selber, ihren Alltag und ihr Leben nach dem 14. Januar verändert hätte. Es sind vor allem für uns selbstverständliche Bürgerrechte, welche die TunesierInnen jetzt wahrnehmen können.
Einige der Befragten wussten aber noch nicht einmal, dass im Juli die Wahlen für die verfassungsgebende Versammlung stattfinden werden (Anmerkung: die Wahlen wurden nun auf Oktober verschoben). Über 40 Parteien stehen zur Wahl, die größten Aussichten auf Erfolg haben die an-Nahda und die POC (Kommunistische Partei), daneben einige Parteien von ex-Ben-Ali-ParteigängerInnen. Das noch ganz frische Wahlrecht gilt laut einem Artikel aus der Le Monde Diplomatique als »eines der demokratischsten der Welt«
(5. Juni 2011: Tunesien bringt sich Demokratie bei).
In der Hafenstadt Zarzis stieß ich auf eine weitere Veränderung durch die Revolution: die unkontrollierte Grenze zum Mittelmeer. Die Überwachung der Küste ist mit dem alten Regime zusammengebrochen.
Seit dem 14. Januar dieses Jahres sind circa 25 000 TunesierInnen illegal auf die italienische Insel Lampedusa gereist. In Zarzis gibt es Schlepper, die für etwa 1 000 Euro pro Person die Überfahrt organisieren. Karim, ein junger Tunesier, in Düsseldorf geboren und aufgewachsen und mit 18 nach Tunesien abgeschoben, erklärte mir, dass inzwischen jeder, der ein Boot hätte, zum »harrak« (Schlepper) würde. Er selbst erwartete in jener Nacht einen Anruf von seinem Schlepper für den Aufbruch. Sein Plan war klar: kurzer Aufenthalt auf Lampedusa, Abtransport in irgendeine italienische Stadt mit der Aufforderung, das Land innerhalb von vier Tagen zu verlassen und dann die Weiterreise nach Paris, Dänemark und schließlich Schweden. Erst kürzlich telefonierte ich mit ihm - der Anruf des Schleppers kam nie. Karim sitzt immer noch in Zarzis.
Nach dem Bericht eines jungen Tunesiers, den ich kennen lernte, hat sich an dem Problem von Folter und Unterdrückung von Seiten der Sicherheitsbehörden wenig geändert. Dass die alten Strukturen zu großen Teilen noch existieren, bringt mich zu dem Schluss, dass es eher eine Revolte als eine Revolution war. Natürlich loderte da kein Feuer mehr in den Augen der Menschen.
Adrian Kohlert