Am Anfang stand die Ratlosigkeit - und der Verdacht. »Was machen Sie hier?«, wollte der Polizeibeamte von den etwa sechzig RadfahrerInnen wissen, die an einem Freitagnachmittag Ende März auf den Kölner Ringen unterwegs waren. Mehrere Polizeifahrzeuge waren angerückt, um die vermeintliche Bedrohung im Zaum zu halten. Dabei taten die RadlerInnen nichts Illegales. Ihre Antwort auf die Frage des Beamten: »Fahrrad fahren!«
Das war beim ersten Kölner Critical Mass Ride der diesjährigen Fahrradsaison. Dabei handelte es sich weder um eine rollende Anti-AKW-Demo noch um eine Panoramafahrt, sondern um eine internationale Protestform. Regelmäßig, meist am letzten Freitag im Monat, treffen sich überall auf der Welt FreundInnen des unmotorisierten Verkehrs, um gemeinsam durch die Straßen ihrer Stadt zu radeln. Ihr Ziel ist es, durch möglichst massenhaftes Auftreten auf die Belange und Rechte der RadfahrerInnen im Straßenverkehr aufmerksam zu machen.
In den frühen Neunzigerjahren in San Francisco ins Leben gerufen, hat die Critical Mass (CM) genannte Aktionsform unzählige AnhängerInnen auf der ganzen Welt gefunden. 24 deutsche Städte mit einer regelmäßig stattfindenden CM verzeichnet derzeit die Meta-Website critical-mass.de. Die Kölner CM feierte Ende Juni ihr einjähriges Bestehen. Innerhalb dieses Jahres hat sich die TeilnehmerInnenzahl kontinuierlich gesteigert, sagt der Rennradler Marco Laufenberg, der von Beginn an dabei war: von anfangs fünfzehn auf zuletzt etwa achtzig MitfahrerInnen. Fünfzehn RadlerInnen braucht es laut Straßenverkehrsordnung, um auch zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn radeln zu dürfen.
Für Marco Laufenberg spiegelte die Reaktion der Polizei im März die Haltung vieler Menschen wider: Sie betrachteten RadfahrerInnen nicht als gleichberechtigte VerkehrsteilnehmerInnen, sondern als Verkehrsbehinderung. Laut Gesetz haben RadfahrerInnen im Straßenverkehr die gleichen Rechte und Pflichten wie AutofahrerInnen. In der Praxis sehe es anders aus, sagt Laufenberg: Da könne ein hinterhältig aber rechtmäßig platzierter Tempo-Blitzer einen medialen Aufschrei provozieren, der die Behörden innerhalb von Tagen einlenken lässt. Seit Jahren bekannte Schäden und Hindernisse auf Radwegen, die Leben gefährden, würden dagegen nicht behoben. Damit RadfahrerInnen als VerkehrsteilnehmerInnen ernst genommen würden, brauche es eine kritische Masse. »Im Kopf der Leute ist Verkehr gleich Auto«, sagt Laufenberg. »Wir versuchen das aufzubrechen.«
Zählungen zufolge wird in Köln immer mehr Rad gefahren. In Ehrenfeld sind die RadlerInnen gegenüber den AutofahrerInnen bereits in der Überzahl. Doch Radfahren in Köln ist gefährlich. 1245 RadfahrerInnen gerieten im vergangenen Jahr in Unfälle mit Personenschaden, sieben verunglückten tödlich. Ein Blick in die Langzeitstatistik des Kölner Polizeipräsidiums offenbahrt, dass sich in den letzten zehn Jahren die Unfallzahlen kaum verändert haben. Schlimmer noch: Während das Verletzungsrisiko von KFZ-InsassInnen erheblich reduziert werden konnte, ist jenes der RadfahrerInnen sogar leicht gestiegen.
Der Critical Mass Ride ist eine offene Veranstaltung, bei der jede und jeder mitradeln kann. Offizielle OrganisatorInnen gibt es nicht, die Route bestimmen die, die gerade vorne fahren. Doch egal ob Öko-Radlerin, Liegerad-Relaxerin oder Hardcore-Rennfahrer: Alle TeilnehmerInnen wollen Präsenz zeigen und dadurch andere zum Nachdenken bringen. Dafür gehen manche recht kreativ zu Werk: Sie basteln Sticker oder bauen spektakuläre Freakbikes. Laufenberg verbreitet mit einem Soundtrack aus Fahrradliedern gute Stimmung, der während der Tour aus einem Ghettoblaster dudelt. Nach der etwa einstündigen Fahrt werden auf dem Start- und Endpunkt am Rudolfplatz noch Tipps und Erfahrungen ausgetauscht. Das schafft ein Gemeinschaftsgefühl, sagt Laufenberg. »Du merkst: Ich bin nicht allein.«