Fünf Gräber bis Kairo

Seit 25 Jahren dreht sich die Bildungspolitik im Kreis. Nach den ›goldenen‹ Sechzigerjahren müffelt es wieder unter den Talaren. Von Gerd Riesselmann

Die Bildungspolitik wie wir sie kennen, wurde in den Siebzigerjahren geprägt: Regelstudienzeiten, Drittmittel, Unterfinanzierung. Die Geschichte dieser Politik ist allerdings auch die Geschichte ihres Scheiterns. Immer wieder wurde ihre Durchsetzung durch studentische Proteste vereitelt. Doch steter Tropfen höhlt den Stein, und so sind nach mehr als 25 Jahren die Hochschulen dennoch entscheidend verändert worden.

Die goldene Zeit der Bildungspolitik waren die Sechzigerjahre. Ausgehend vom konstatierten »Bildungsnotstand« - der Unterversorgung der BRD mit AkademikerInnen - bot sich ein weites Feld zur Gestaltung. Die gesamte Bildungslandschaft sollte verändert werden, Utopien hatten Hochkonjunktur. Unzählige neue Universitäten wurden gebaut, Gesamtschulen und -hochschulen eingerichtet. Mittels BAföG wurde den »sozial schwachen Schichten« der Zugang zu weiterführenden Schulen und Hochschulen ermöglicht.

Die aufkommende StudentInnenbewegung verscheuchte den »Muff von tausend Jahren« und erzwang die studentische Mitbestimmung in den Belangen der Hochschule. Mit dem elitären AkademikerInnentum war es ebenso vorbei wie mit Burschenschaften und studentischen Verbindungen. Bis Mitte der Sechzigerjahre hegemonial an den Universitäten, versanken diese nun in die Bedeutungslosigkeit. Auch die universitären Trachten und Riten - die bekannten Talare - wurden nach und nach abgeschafft. Zu Beginn der Siebzigerjahre hatten die Hochschulen sich jedenfalls gründlich gewandelt.

Doch noch bevor die neue Bildungspolitik sich richtig entfalten konnte, ging ihr Stern auch schon wieder unter. Das lag weniger an ihren Erfolgen oder Misserfolgen. Vielmehr fällt ihr Ende mit dem Ende eines ganzen Politikmodells zusammen. Zweistellige Lohnsteigerungen, Vollbeschäftigung und die Macht der Gewerkschaften sollten bald ebenso Geschichte sein wie die schul- und hochschulpolitischen Errungenschaften.

Nichts dokumentiert das Ende der neuen Bildungspolitik so gut wie das Hochschulrahmengesetz (HRG) des Jahres 1976 und der Prozess seiner Entstehung. Welchen Weg die Debatten genommen hatten, lässt sich im Jahresbericht 1975/76 des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) nachlesen: Es »konnten wesentliche Schwachstellen dieses Gesetzes aus Sicht der Industrie behoben werden. Dies gilt insbesondere für den Kompromiß im Paritätenstreit. Es ist zu begrüßen, daß nunmehr in allen Gremien mit Entscheidungsbefugnis für Forschung, Lehre und Studium ... Professoren über die absolute Mehrheit der Stimmen verfügen. Unpräzise Hinweise wie ›Lehre und Forschung nur im Bewußtsein der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen‹ wurden gestrichen, die Gesamthochschulen sind nicht mehr Regelverpflichtung.«

»Gesamthochschulen«, »paritätische Mitbestimmung« und »Gesellschaftliche Verantwortung« - das waren die Konzepte der Sechzigerjahre. Vorbei: Aus der paritätischen wurde die einfache Mitbestimmung: StudentInnen nahmen zwar noch an den Sitzungen der universitären Organe teil, hatten aber effektiv keinerlei Einfluss, da die ProfessorInnen immer die absolute Mehrheit besaßen. Demokratie als Farce. Die existierenden Gesamthochschulen fristeten ein Schattendasein.

Dies war vor allem ein Schlag gegen die Reformuniversitäten, etwa in Bremen. In diesen einstmalig sozialdemokratischen Vorzeigeprojekten galt eine paritätische Besetzung der Gremien. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten sich an den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung orientieren. Interdisziplinäres Forschen und gesellschaftswissenschaftliche Begleitstudiengänge waren die Regel. Damit sollte nach Willen des damaligen sozialdemokratischen Bildungssenators Horst-Werner Franke mit Umsetzung des HRG Schluss sein. In seinem Entwurf für ein Landeshochschulgesetz findet sich nichts davon wieder.

An die Stelle der neuen Bildungspolitik traten andere Konzepte: Regelstudienzeiten und Zwangsexmatrikulation, »Praxistauglichkeit«, Drittmittelforschung. Der Fokus wanderte vom gesellschaftlichen und demokratischen Nutzen der Hochschulen hin zum industriellen und kommerziellen Zweck. Damals wurden die Begriffe und Instrumentarien geschaffen, die die Bildungspolitik bis heute prägen.

Allerdings gestaltete sich deren Durchsetzung unerwartet schwierig. Das lag nicht zuletzt am massiven Widerstand der StudentInnen. In den Jahren 1976 bis 1978 nahmen jedes Jahr mehr StudentInnen an den bundesweiten Protesten gegen das HRG und seine Umsetzung in die Ländergesetze teil. 300000 waren es im Wintersemester 1976/77, immerhin ein Drittel aller damals Eingeschriebenen. Ein Jahr später, im Winter 1977/78, nahmen sogar über eine halbe Million StudentInnen am ersten bundesweiten Streik teil. Und dieser Streik war es, der das HRG in weiten Bereichen zu Fall brachte.

Viele Konzepte des HRG bleiben damit unrealisiert. So beispielsweise die »Praxisnähe« der Studiengänge und die völlige Freigabe der Drittmittelforschung. Statt dessen dümpelte die Bildungspolitik vor sich hin, die StudentInnen wurden immer mehr, die Mittel der Hochschulen aber immer weniger. Statt von »Bildungsnotstand« sprach man - schon 1975! - von der »Akademikerschwemme«.

Hier setzte die Novellierung des HRG von 1985 an. Sie brachte vor allem die Einführung der Zwischen- und Vordiplom-Prüfungen als Selektionsinstrument, die Einführung von Regelstudienzeiten, die Einrichtung von Sonderstudiengängen und die weitere Stärkung der ProfessorInnenschaft in den universitären Gremien.

Die Diskussionen über die HRG-Novelle und ihre Verabschiedung wurden von studentischen Protesten begleitet, die allerdings nicht so heftig ausfielen wie zehn Jahre zuvor. Und auch nach seiner Verabschiedung blieb das neue HRG umstritten. So erklärten zahlreiche Hochschulen und Länder, die Beschlüsse nicht umsetzen zu wollen. Der Weg in die »Hochschulen der neunziger Jahre«, den die damalige Bundesbildungsministerin Beate Willms (CDU) einschlagen wollte, blieb steinig. Die Ausdifferenzierung der Hochschulen und der Studiengänge in »berufsqualifizierende« für die Masse und »wissenschaftliche« für die Elite kam nicht voran.

So wurde die Reform der Hochschulen vor allem in den Ländern betrieben, die unterschiedlichen Interessen in der Hochschulpolitik fanden für längere Zeit nicht mehr zusammen. Erst 1993 gelang es, einen erneuten länderübergreifenden Konsens zu stiften, der sich im sogenannten »Eckwertepapier« einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe niederschlug. Schwerpunkt der hier vorgeschlagenen »Studienstrukturreform« waren die Senkung der Regelstudienzeiten, deren Überschreiten mit Studiengebühren verknüpft werden sollte, die »Entfrachtung« der Studiengänge, um sie auf ein »berufsqualifizierendes« Niveau herunterzudrücken. Auch Sonderstudiengänge für »Hochbegabte« und die Teilung in Massen- und Elitenbildung wurden erneut in Angriff genommen. Als wesentliches Element dieser Reform sollten das HRG und die Landesgesetze dienen. Der Konsens zerbrach allerdings bereits nach kurzer Zeit an der Frage, wer das alles bezahlen sollte. Auch erneut aufkommende StudentInnenproteste trugen zu seinem Scheitern bei.

»Wir würden uns freuen, die Forschungsabteilung Ihrer Firma zu sein, das Informationsarchiv Ihrer Einrichtung, die Weiterbildungsstätte Ihres Betriebes« - so beginnt der Dienstleistungskatalog der Universität Hamburg aus dem Jahr 1997. Die Hochschulen haben sich verändert, ohne das es dazu eines HRG bedürfte. Aber die Bildungspolitik ist nicht untätig geblieben. Viele kleine Reformen und Reförmchen und das Druckmittel der beständigen Kürzungspolitik haben sich als effizient genug erwiesen. Der studentische Widerstand wird zunehmend schwächer, nicht zuletzt weil der/die einigende GegnerIn fehlt. Wer will schon gegen solche Dinge wie Globalhaushalte streiken?

Von der neuen Bildungspolitik der Sechzigerjahre blieben nur Ruinen. Die Mitbestimmung der StudentInnen steht mehr denn je vor ihrer Abschaffung, die Gesamthochschulen wollen sich selber endlich zu »richtigen« Universitäten umwandeln, und immer öfter treten RektorInnen und DekanInnen bei öffentlichen Veranstaltungen wieder im Ordinat auf.