Familienhistorie im englischen MigrantInnenmilieu: White Teeth

Von Stefan Henke

Manchmal gibt es Glücksgriffe, beispielsweise White Teeth, das gelungene Debüt der jungen englischen Schriftstellerin Zadie Smith. Aufgespürt in einem der sonst eher verdächtigen Top-Five-Ständern einer Buchhandlung auf dem Flughafen Manchester und erstanden mit meinen letzten englischen Pfund sorgte der Roman für eine unterhaltsame Rückreise.

Smith erzählt die Geschichte zweier Familien in North-West-London, dem Schmelztiegel der Stadt. Archie Jones, zur unteren Mittelklasse gehörend und früherer Radrennfahrer, will sich zum Jahreswechsel 1974/75 mit den Auspuffgasen seines Wagen vergiften. Nachdem ihn ein Pakistani mit der Begründung »no one gasses himself on my property, we're not licensed« rettet, gerät er in eine obskure Kifferparty. Dort trifft er Clara, eine junge Achtzehnjährige, die ihrerseits glaubt, gerettet worden zu sein. Denn sie ist die Tochter einer karibischen Zeugin Jehovas, die für den Jahreswechsel den Weltuntergang prophezeite. Kurze Zeit später heiraten die beiden. Hinzu tritt die Familie von Archies Freund Samad, einem Bengali, der vor einigen Jahren ebenfalls einwanderte und in dasselbe Viertel zog. Die beiden verbindet eine tiefe Freundschaft, seitdem sie gemeinsam einige Wochen lang das Ende des Zweiten Weltkriegs verpassten. Um beide Protagonisten herum baut Zadie Smith eine Familiengeschichte auf. Doch dieses Buch unterscheidet sich in fast allen Facetten von Romanen mit ähnlichen Themen.

Das Milieu, das Smith beschreibt (und in dem sie auch selbst aufgewachsen ist), wird von ihr liebevoll gezeichnet. Sie kann sich in die Nöte hineinversetzen, denen viele ImmigrantInnen ausgesetzt sind. So schildert sie minutiös, wie Samad sich - vielleicht aus Enttäuschung über die neue Heimat - zu einem religiösen Menschen wandelt und einen seiner Söhne zur Erziehung zurück nach Bangladesh schickt. Gleichzeitig beschreibt sie aber, wie seine Maßnahmen keine Wirkung haben. Derjenige seiner Söhne, der zurückgeschickt wurde, entwickelt sich zu einem Anhänger der westlichen Gesellschaft und des Fortschritts, derjenige, der in England bleiben durfte, wird zunächst Kiffer und landet schließlich bei einer obskuren islamischen Sekte. Während des Lesens habe ich es besonders geschätzt, dass Smith zu keiner Zeit versucht, die Handlungen ihrer Helden zu bewerten. Ihnen als kleinen Leuten gehört ihre Sympathie, ohne sie für den einen oder anderen Fehltritt zur Rechenschaft zu ziehen. Dem Buch fehlt jeder belehrender Duktus, stattdessen spricht jede Person für sich selbst, für ihre Träume, ihre Widersprüche und auch ihr Scheitern.

Schließlich lebt das Buch auch von Smiths Schreibstil. Fröhlich, unbekümmert und offenherzig schildert sie häufig auch lustig anmutende Episoden aus dem Leben der ProtagonistInnen. Da werden Kinder von alten Frauen während eines Erdbebens geboren, da verliebt sich Samad in eine Lehrerin, da verpassen zwei junge Menschen das Ende des Zweiten Weltkriegs, da wird die Vorstellung einer genmanipulierten Maus zum Treffpunkt aller Generationen, entweder als DemonstrantInnen oder als UnterstützerInnen.

Der Leser oder die Leserin selbst werden so von der Autorin mitgerissen, leidet mit Archie, Samad und den anderen. Dafür werden sie neben dem reinen Lesevergnügen auch mit etwas anderem belohnt: Ich hätte gerne auch in die deutsche ImmigrantInnenkultur solche Einblicke, wie Zadie Smith sie mir durch das Buch in die englische gegeben hat. So bleibt am Ende dieses schönen Buches auch eine Aufgabe für deutsche SchriftstellerInnen: vielleicht ein ähnliches Buch über das Milieu in Köln-Kalk. White Teeth sollte Mut machen.

Zadie Smith: White Teeth, 542 Seiten, Penguin 2000, 6,99 Pfund. Deutsche Ausgabe: »Zähne zeigen«, 656 Seiten, Droemer Knaur, 9,90 Euro, gebunden 22,90 Euro.