In den USA ist Sarah ein Bestseller. Der Debütroman des 22-jährigen J.T. LeRoy hielt sich auf den Listen von Los Angeles Times und New York Times wochenlang in den obersten zehn Rängen. Gerüchte besagen, dass selbst seine eigene Agentin nur von Fotos weiß, wie LeRoy ausschaut. Doch selbst auf den Fotos trägt er immer Perücke und Sonnenbrille. Und weil dieser seltsame junge Mann in seinen eigenen Lesungen, die er für obdachlose Kinder organisiert, nie zu sehen ist, mag man glauben, dass endlich jemand die Foucaultsche Vorstellung von Autorenschaft durchschaut hat.
In Sarah macht sich Cherry Vanilla, ein als Mädchen verkleideter Junge, auf die Suche nach seiner Mutter Sarah, einer Prostituierten. Die ist mit einem gut zahlenden Freier an die Küste abgehauen. Ihren Sohn lässt sie auf dem Straßenstrich in West-Virginia zurück. Hier, wo die Kundschaft aus Truck-Fahrern besteht, ist Cherry Vanilla aufgewachsen. Seiner Mutter hat er des Öfteren zuschauen können, wie sie nach getaner Arbeit ihr Gesäß in einem Schaumbad badet. »Du wirst dir hier drin auch mal dein Arschloch einweichen, wenn Glad dich mal anschaffen lässt«.
Glad war bis dahin der Zuhälter der Mutter. Nach ihren Verschwinden begibt sich auch Cherry in seine Obhut. Glad stattet Cherry, wie alle für ihn anschaffenden Jungs, mit seinem Markenzeichen, einer Waschbär-Penisknochenkette aus. Auf das Modell um seinen Hals ist Cherry Vanilla besonders stolz. Bei seinem erstem Date in einem Truck stellt sich heraus, dass der Junge seiner verschollenen Mutter nicht nur in der Tat nacheifern will. »Ich soll dem netten Mann sagen, mein Name sei Cherry Vanilla, aber nachdem ich angeklopft habe und er gesagt hat: Wer ist denn da?, bringe ich einfach bloß den Namen Sarah heraus«.
Cherry Vanilla ist fortan Sarah. Die Suche nach seiner gleichnamigen Mutter treibt ihn schließlich dem pädophilen Zuhälter Le Loup in die Hände. Der steckt den Jungen, weil er ihn mit seinen blonden Locken und Sommersprossen für ein Mädchen hält, als Schaustück für die grobschlächtigen Freier in einen goldenen Käfig - bis der Schwindel des Geschlechtertauschs eines Tages auffliegt. Danach wird alles anders und das Leben für Sarah alias Cherry zur Hölle.
Der Roman hat zunächst das Format einer modernen Fabel, in der die Geschlechter-Metamorphose aufzugehen scheint. Der Text ist zugleich die sehr persönliche Schilderung vom schnellen Ende einer Kindheit. Und er handelt von einem Milieu das keine Kindheit kennt. LeRoy hat in Sarah seine eigenen Kindheitserfahrungen in den Randzonen Amerikas verarbeitet. Dort wo die Zuhälter die Eingeweide von Schlangen auf die Straße legen, damit es wieder Regen gibt. Am Ende des Romans ist Cherry Vanilla erwachsen geworden. Und drogensüchtig. Den Namen seiner Mutter hat er für den Start in sein eigenes Leben ablegt.
J.T. LeRoy: Sarah, Reclam, Leipzig 2001, 183 Seiten, 14,90 Euro.