Die Dividenden der großen Kapitalgesellschaften vermehrten sich im Jahr 2001 auf wundersame Weise. So schüttete das Chemieunternehmen Bayer über eine Milliarde Euro aus, pro Aktie 1,40 Euro. Das waren sieben Prozent mehr als im Vorjahr. Anfang 2002 wurde der nordrhein-westfälische Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) des profanen Grundes für den märchenhaften Geldregen gewahr: Der Pharmariese hatte auf der Hauptversammlung nicht einfach nur die gute Fee gespielt, sondern eine »steueroptimale Ausschüttungspolitik« betrieben, wie es die FinanzjongleurInnen in den Chefetagen der Global Players nennen. So optimal, dass Steinbrück dem Unternehmen 250 Millionen Euro Körperschaftssteuer zurück überweisen musste. Die jüngste Steuerreform zwang ihn dazu. Sie erlaubte den Konzernen nämlich, für bereits versteuerte Profite nachträglich den neuen, niedrigeren Steuersatz geltend zu machen, falls sie mit den einbehaltenen Gewinnen ihre Aktionäre beglückten.
Zu verdanken hatte Bayer dieses Steuergeschenk einem alten Bekannten: Heribert Zitzelsberger. Bevor Hans Eichel ihn als Staatssekretär mit der Unternehmenssteuer-reform betraute, war er Finanzchef des Chemie-Multis gewesen. »Wir haben mit Herrn Zitzelsberger unseren besten Mann entsandt«, tönte Bayer-Chef Manfred Schneider auf der Hauptversammlung im April 1999 sinngemäß, »und gehen davon aus, dass er in unserem Sinne tätig wird.«
Steuerparadies für Holdings
Das wurde er denn auch. »Keinem der Berliner Großkopfeten hat die deutsche Großindustrie so viel Wohltaten zu verdanken wie Heribert Zitzelsberger«, schrieb die Berliner Zeitung. Er senkte nicht nur die Körperschaftssteuer für einbehaltene Gewinne auf 25 Prozent, sondern stellte auch die Erlöse aus dem Verkauf von Unternehmensteilen steuerfrei.
Der Bayer-Konzern, ehemaliger Arbeitgeber von Zitzelsberger, nutzte nicht nur die Möglichkeit der »steueroptimalen Ausschüttungspolitik«. Der Konzern verkaufte seine Anteile an der EC Erdölchemie passgenau zum 1. Januar 2001 - dem Datum, ab dem für die Erlöse aus dieser Transaktion keine Abgaben mehr zu entrichten waren. Nachdem Zitzelsbergers Entlastungsprogramm die Bundesrepublik im Urteil von Investmentbankern zu einem Paradies für Holdings gemacht hatte, nahm der Multi eben diese Unternehmensstruktur an. Sogar aus dem Lipobay-Skandal mit seinen einhundert Todesopfern schlug er noch Kapital. Während das Unternehmen der Öffentlichkeit gegenüber die Berechtigung von Schadensersatzansprüchen stets abstritt, stellte es die aus den Klagen eventuell erwachsenden finanziellen Belastungen dem Finanzamt schon einmal als Verlustvorträge in Rechnung. Mit dem Hinweis auf diese Verlustvorträge forderte es dann die Städte an den Standorten lapidar per Fax auf, bereits gezahlte Gewerbesteuerabschläge doch bitte wieder zurück zu überweisen. Von Bayer als größtem Steuerzahler total abhängig, mussten Leverkusen, Krefeld, Dormagen, Brunsbüttel und Wuppertal ihre Etatplanungen vollständig über den Haufen werfen.
Einige Kommunen verhängten sofort eine Haushaltssperre. Allein in Leverkusen sanken die Gewerbesteuereinnahmen von 89,9 Millionen Euro auf 36,4 Millionen. »So viele Schwimmbäder können wir gar nicht schließen, um die Steuerausfälle aufzufangen«, klagte der Leverkusener Oberbürgermeister Paul Hebbel. Der Dormagener Kämmerer Jürgen Alef erhob sogar Zweifel an der Seriosität der Bayer-Zahlen: »Dass der Gewinn bei Null liegt, kann mir keiner erklären. Und solange mir das keiner erklären kann, glaube ich es nicht.«
In der Neuss-Grevenbroicher Zeitung erklärte der Werksleiter von Bayer/Dormagen, Walter Schulz, dass der Gewinn gar nicht bei Null liegen muss, damit die Steuern bei Null liegen. Gewinn ist nämlich rein steuertechnisch nicht gleich Gewinn. »Wir müssen deutlich unterscheiden zwischen dem Bilanzgewinn eines Unternehmens und dem sogenannten steuerpflichtigen Gewerbeertrag, der für die Gewerbesteuer maßgeblich ist«, dozierte er.
Einen solchen Gewerbeertrag erwirtschaftete Bayer dank »der Hilfe versierter Steuerfachleute« nicht, und damit ist für Schulz der Fall klar: »Wenn wir aufgrund der wirtschaftlichen Lage keinen Gewinn im Sinne des Steuerrechts erwirtschaften, können wir auch keine Steuern zahlen.« Insgesamt reduzierten sich die Bayer-Ertragssteuern durch die ganz legalen Steuertricks von 1,15 Milliarden Euro auf 150 Millionen - eine Abnahme um 88 Prozent! Geld, das dringend gebraucht würde, um Schulen zu sanieren, die Kinderbetreuung zu verbessern oder durch öffentliche Investitionen neue Beschäftigung zu schaffen, und das nun über die gestiegene Lohnsteuer aufgebracht werden muss.
Milliarden durch Luftbuchungen
Darüber hinaus verband Zitzelsberger Muttergesellschaften und Tochterfirmen steuertechnisch durch das Konstrukt der Organschaft. Gewinne und Verluste konnten auf diese Weise solange zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verrechnet werden, bis für die Finanzämter ein Nullsummenspiel heraussprang.
Wie das Verfahren, rechnerische Verluste aus internationalen Unternehmensbeteiligungen steuerabzugsfähig zu machen, funktioniert, beschrieb eindrücklich das ARD-Magazin plusminus am Beispiel der Telekom. Durch simple Umbuchungen vom Mutterunternehmen auf eine Tochter und wieder zurück - also durch Kontobewegungen von einer Tür zur nächsten - konnte sie ihre Steuern für das Jahr 2000 um über 13 Milliarden Mark senken: 1996 kaufte die Telekom für drei Milliarden Mark zehn Prozent der Aktien des amerikanischen Mobilfunkanbieters Sprint. Mit dem weltweiten Börsenboom im High-Tech-Bereich vervielfachte sich auch der Wert der Sprint-Aktien. 1999 übertrug die Telekom für 16,4 Milliarden Mark diese Anteile an ihr Tochterunternehmen Nordamerikanische Beteiligungs-Holding (NAB), die trotz milliardenschwerer Geschäfte nur zwei MitarbeiterInnen hat und ohne eigenes Firmenschild in der Zentrale der Telekom angesiedelt ist. Abzüglich des Kaufpreises von drei Milliarden Mark verbuchte die Telekom einen satten Gewinn von 13,4 Milliarden Mark - steuerfrei.
Die Aktienübertragung an NAB war der erste und entscheidende Schritt, um von den Besonderheiten im Körperschaftssteuergesetz zu profitieren. Denn im Jahr 2000 stürzten die Sprint-Aktien fast auf den Kaufpreis von 1996. Und ausgerechnet das machte den Telekom-Konzern nun zum Gewinner. Denn die Wertminderung der Sprint-Beteiligung kann er dem Finanzamt gegenüber als Verlust geltend machen. Obwohl also real gar keine Verluste entstanden sind, erlaubt das Gesetz der Telekom, das Finanzamt doppelt zu schröpfen: Durch den Kursverfall ist das Tochterunternehmen 13,4 Milliarden Mark weniger wert. Dadurch kann nun die Mutter einen Verlust von 13,4 Milliarden Mark steuerlich absetzen. Das Zauberwort dafür heißt »Teilwertabschreibung«. Bei einem Steuersatz von rund 50 Prozent können sowohl die Konzerntochter als auch die -mutter jeweils 6,7 Milliarden Mark Steuern sparen. Ein Verlust für die Staatskasse von 13,4 Milliarden Mark. Allein 1,4 Milliarden erhielt der Konzern vom Land NRW zurückerstattet.
Arglistig getäuscht
Solche steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten stoßen bei SteuerexpertInnen auf völliges Unverständnis. Im ARD-Magazin panorama sagte zum Beispiel Professor Norbert Herzig: »Die Unternehmensgruppe als Ganzes hat keinen Verlust erlitten. Er wird aber trotzdem mit steuerlicher Wirkung geltend gemacht. Obwohl insgesamt kein Verlust eingetreten ist, kann ein solcher steuerlich geltend gemacht werden. Und das kann nicht richtig sein.«
Dass diese Lücke vermeidbar gewesen wäre, war leitenden FinanzbeamtInnen wie Ulrich Breier seit 1999 bekannt. Ein Milliardenschaden wäre mit nur einer kleinen Umformulierung im Paragraph 8b des Körperschaftssteuergesetzes verhindert worden: »Diese Gesetzeslücke wäre ausgeräumt worden, wenn man ins Gesetz hineingeschrieben hätte, dass Teilwertabschreibungen sich steuerlich nicht auswirken dürfen.« Staatssekretär Zitzelsberger, der die Lücke des Gesetzes zu verantworten hat, stand gegenüber panorama für einen Kommentar nicht zur Verfügung. Insgesamt reduzierten sich 2001 die von den Unternehmen entrichteten Steuern um 26 Prozent von 76 Milliarden auf 56 Milliarden Euro.
Diese Entwicklung kam für das Finanzministerium nur teilweise überraschend. In den ersten Vorlagen bezifferte es die »negativen Einkünfte« auf drei Milliarden Euro. Aus der dem Kabinett dann zur Abstimmung vorgelegten Überarbeitung verschwand die Zahl allerdings wieder, weil sie die Akzeptanz des »Jahrhundertwerks« gefährdete. LandespolitikerInnen wie der Grünen-Umweltminister von Schleswig-Holstein, Klaus Müller, fühlen sich deshalb von Eichel und Co. arglistig getäuscht: »Wir haben uns zu sehr auf die Zahlen aus dem Finanzministerium verlassen«, bekannte er im Spiegel. Auch auf das Risiko der Nutzung der zahlreichen Steuerschlupflöcher der Reform durch die Global Players - sofern man nicht das Gesamtpaket als ein einziges Steuerschlupfloch bezeichnen will - hatten LandespolitikerInnen Zitzelsberger immer wieder hingewiesen. Der aber beschied ihnen: »So etwas macht ein deutsches Unternehmen nicht.«
Sogar der CDU ging die Bevorzugung der Großunternehmen zu weit: Gerda Hasselfeldt, finanzpolitische Sprecherin der CDU/CSU, unterstützte im Finanzausschuss einen Antrag der Länder Bayern und Nordrhein-Westfalen, die kurz vor Verabschiedung der Steuergesetzgebung eine Prüfung der Steuerausfälle verlangten. Doch es passierte nichts. Gerda Hasselfeldt zieht daraus den Schluss »Die Tatsache, dass dies nun nicht gemacht wurde, kann nur so bewertet werden, dass entweder der Sachverstand doch nicht vorhanden ist, oder dass einfach schlampig gearbeitet wurde, vielleicht auch bewusst der Prüfbitte nicht nachgekommen ist. Ich finde, dass das Verhalten des Ministeriums hier in keiner Weise entschuldbar ist.«
Legende vom »Hochsteuerland«
Nach einer vergleichenden Untersuchung der Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) liegt unter den Industriestaaten der Anteil von Unternehmenssteuern am Bruttosozialprodukt nur noch in Island niedriger als in Deutschland. Sogar in den meisten Bundesstaaten der USA entrichten die ansässigen Konzerne mehr Abgaben als am Standort Deutschland. Die EU-Kommission hat der amtierenden Bundesregierung wegen ihrer Aufmerksamkeiten für die Multis schon Steuer-Dumping vorgeworfen.
Davon unbeeindruckt, dumpt der Ex-Steuermann von Bayer munter weiter. Er plant eine »Modernisierung des Außensteuergesetzes«, welches das eben erst geschlossene Steuerschlupfloch »Abzugsfähigkeit von Betriebsausgaben bei Auslandsbeteiligungen« wieder öffnet. Darüber hinaus will der Finanzstaatssekretär die bei kreditfinanzierten Unternehmenskäufen - wie dem Erwerb von Aventis Cropscience durch den Leverkusener Chemie-Multi - fälligen Zinsleistungen steuerabzugsfähig machen.
Sein liebstes Kind aber ist die Abschaffung der Gewerbesteuer. Als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfindet Heribert Zitzelsberger nämlich, dass nur GroßverdienerInnen wie Bayer mit ihr zur Kasse gebeten werden: »Die Gewerbesteuer ist ( ) immer problematischer geworden, sie erfasst nur noch Großbetriebe.« Weil das nicht sein darf, hat der Beamte im Ministerium schon einen »runden Tisch« eingerichtet, an dem unter anderem MinisterialbürokratInnen, SteuerberaterInnen, JuristInnen und WirtschaftsvertreterInnen sitzen.
Als erstes haben natürlich Bayer und Konsorten Platz genommen. Das kam selbst der nicht eben kapitalismuskritischen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) nicht ganz geheuer vor: »An vorderster Front steht dabei die Chemieindustrie, eben jene Branche, in der auch Zitzelsberger einst vor seiner Berufung ins Ministerium als Steuerfachmann gearbeitet hat.« »Das Klima wirkt ( ) durchaus freundlich und einvernehmlich«, schreibt das Blatt weiter. Kein Wunder, dass die Chemie stimmte, denn Unfreundliches hatte die Tischgesellschaft nur mit denen vor, die keine Einladung erhalten hatten: den DurchschnittssteuerzahlerInnen. Was Bayer und Co. nicht mehr zahlen wollen, soll künftig die breite Masse aufbringen, da entdecken die SteuersenkungsstrategInnen plötzlich die Werte des Gemeinsinns. Sie wollen die »finanzielle Beteiligung der Steuerbürger an den Ausgaben ihrer Gemeinde« künftig »auf eine breitere demokratische Basis« stellen, wie ein Steuerexperte der Industrie formulierte.
Gewaltigste Umverteilungsaktion
Unterdessen drohen die bereits geltenden Regelungen ihr ganzes Unheil erst in den kommenden Jahren zu entfalten. Die Global Players können bei einer Ausschüttung ihrer einbehaltenen Gewinne an die AktionärInnen nach einer Schätzung des Spiegel Körperschaftssteuer-Rückforderungsansprüche in Höhe von 37 Milliarden Euro stellen. »Dies wäre dann eine der gewaltigsten Umverteilungen von unten nach oben, die die Republik je gesehen hat«, konstatiert der Flensburger Volkswirtschaftler Gerd Grözinger.
Der Öffentlichkeit gegenüber verkaufte das Finanzministerium das Anlegen der Steueroase Bundesrepublik mit dem Argument, damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu sorgen. Davon redet inzwischen keiner mehr. Während die ausbleibenden Steuerleistungen die Städte an den Rand des Ruins treiben, liegt die offizielle Arbeitslosigkeit unverändert hoch bei zirka vier Millionen. Allein Bayer hat im fast steuerfreien Geschäftsjahr 2001 für die nächsten Jahre die Vernichtung von 10000 Arbeitsplätzen angekündigt.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Tageszeitung junge Welt vom 26. April 2002.