Reisen bildet, wie es so schön heißt. Ein Blick in Reiseliteratur von anno dazumal erst recht. Zwei alte Reisebeschreibungen über den Balkan bieten mehr als die Aussicht auf idyllische Buchten und Palmen. Sie wurden 1913 und 1930 veröffentlicht und stellen eine Miniaturansicht der damals gängigen Ideale und Stereotypen dar.
» die Karstberge Süddalmatiens erreichen kaum 2000 m; die gewaltige Wirkung beruht darin, dass ihre Steilwände in der blauen See fußen, unvermittelt aufragen in erschreckender Kahlheit und überwältigender Wucht; Die Felsen bestimmen auch das Kolorit in der See in den Bocche, das Meer erscheint grün in üppig bewachsenen Riviereneinschnitten, mildblau dort, wo die See von mäßig hohen Bergen umrahmt ist; tiefblau bis sattschwarz ist die Farbe des Meeres in den innersten Buchten, in die die Felskolosse ihre Steilstürze senden.« Diese Beschreibung aus Arthur Achleitners Reisen im slavischen Süden wirkt zeitlos. Tatsächlich schrieb er sie vor dem Beginn der Balkankriege im Jahre 1912. Zu dieser Zeit existierten Großreiche wie die österreich-ungarische Doppelmonarchie und das Osmanische Reich noch, sie waren aber bereits im Zerfall begriffen. Neben genauer Landschaftsbeschreibung interessierte sich der passionierte Wanderer und Jäger, der sich Grundkenntnisse der kroatischen Sprache angeeignet hatte, auch für die Flora und Fauna Dalmatiens und Montenegros. Ethnographische Beobachtungen gehörten damals noch zu einem Reisebericht. Denn das Reisen war vor dem Ersten Weltkrieg kein Massenphänomen. Es diente wissenschaftlichen Erkundungen oder wurde aus kulturellem Interesse heraus gepflegt. Auch Achleitners Fahrt auf die Balkanhalbinsel ist als exklusives Unterfangen erkennbar. Er reiste auf einer Jacht die Adria entlang, für die Ausflüge an Land standen Automobile bereit, die von »Benzinisten« betreut wurden.
1930, also rund zwanzig Jahre später, verfasste August Leiss den Reisebericht Durchs Land der tausend Inseln, Fahrten durch Dalmatien. Dieser steht für eine völlig veränderte Epoche. Die monarchischen Großreiche waren von der politischen Landkarte Europas verdrängt worden, aus ihnen waren zum Teil neue Staatsgebilde hervorgegangen. Mit dem Königreich Jugoslawien hatte sich ein eigenständiger Staat konstituiert, der unter seinem Dach SerbenInnen, KroatInnen und SlowenInnen vereinte. Der Fremdenverkehr war in den Küstenregionen bereits auf dem Vormarsch.
Ein Phänomen, das August Leiss Unbehagen bereitet. Beim Lesen entsteht der Eindruck, das er sich als stolzer Entdecker der kleinen Küstenorte Dalmatiens sieht. Schwärmerisch wähnt er sie noch im »Urzustande«. Achleitners ethnographisches Interesse für die Menschen, Flora und Fauna teilt er allerdings nicht mehr. Stattdessen beherrschen Wortschöpfungen wie »südliches Pflanzengewirr« seinen Text.
Stadtbesichtigungen fallen bei Leiss knapp aus. Sein Interesse gilt vor allem Landschaftsbeschreibungen. Diese geraten allerdings zu bildungsbürgerlichen Exkursen in die antike Mythologie; Land und Leute werden mehr oder weniger passend dazu stilisiert. Die hymnische Sprache, die der Landschaft gewidmet ist, steht im auffallenden Kontrast zu dem überheblichen Tonfall, den er häufig in der Beschreibung der Menschen anschlägt. Die kärgliche Infrastruktur Dalmatiens wird hier seinen Bewohnern zur Last gelegt. Leiss, der in Hymnen über das »Meer von Licht und Leidenschaft« schwelgt, ärgert sich über die einfache Küche und familiäre Atmosphäre in dalmatinischen und kroatischen Gasthöfen. Speck und Eier sind ihm schlicht zu bäuerlich. Der obligatorische Lammbraten, eines der Nationalgerichte der Region, geht ihm auf die Nerven: »Mittags gab es wieder Lämmernes. Heute paßte es, denn es war Ostersonntag. Die Familie aß auch mit. Der Verteilungsschlüssel der Wirtin schien mir jedoch ein gar nicht fremdenfreundlicher zu sein.« Der zweckmäßige Umgang mit Tieren lässt den Stadtmenschen Leiss gequält aufheulen, etwa, wenn in der Region um das Biokovo-Gebirge ein Weißkopfgeier in Gefangenschaft gehalten wird. Auf der Insel Rab findet die Tintenfischjagd mit einer Harpune ebenfalls wenig Anklang bei ihm. Sie erscheint ihm als blutiges Spektakel. Dass sie für die dalmatinischen Fischer eine lebenswichtige Einnahmequelle ist, rückt in den Hintergrund.
Achleitner hingegen begeistert sich für die Jagd und schildert, wie ein Schakal erlegt wird. Jagdszenen und -empfehlungen sind mit Exkursen verwoben, die die geologischen Besonderheiten der Region erläutern. Ausführlich geht er auf das Aussehen und die ökologische Funktion von Karstgebieten ein, einer wasserarmen, felsigen Landschaftsform, die dem Landesinneren sein typisches Aussehen geben. Er beschreibt allerdings auch die Veränderungen, die der beginnende Fremdenverkehr und die einsetzende Verstädterung in Kroatien und Montenegro auslösen und notiert interessiert neue Straßenbahnlinien und Schifffahrtsgesellschaften. Fortschritt, vor allem in der Wasserversorgung und im Transportwesen, sieht er als absolute Notwendigkeit an.
Auch die politische Lage der Region wird in den Reisen im slavischen Süden kommentiert. Der aus Bayern stammende Achleitner gibt sich als glühender Monarchist zu erkennen, der sich mit den Habsburgern eng verbunden fühlt. Er preist das österreich-ungarische Imperium als polyglottes Reich, das die vielfältigsten Kulturen unter seiner Herrschaft vereint. Besonders stolz ist Achleitner auf eine Audienz in der Hauptstadt Cetinje bei Nikola I. Petrovic, der seit 1860 Herrscher und ab 1910 auch König von Montenegro war. Auffallend ist, dass er Montenegro gegen »gehässige Feuilletonisten« in Schutz nimmt, die der westeuropäischen Öffentlichkeit das Bild eines barbarischen, unzivilisierten Zwergstaates vorsetzten. Der Grund für seine Sympathie gegenüber dem montenegrinischen Königreich liegt in den damaligen Auffassungen über das Serbentum. Das Königreich Serbien war vor dem Ersten Weltkrieg zum offenen Gegenspieler Österreich-Ungarns und damit auch Deutschlands geworden. Nationalistische und großserbische Strömungen in der Parteienlandschaft Serbiens wurden als Provokation empfunden. Nikola, der König Montenegros, trat diesen Einflüssen aus Serbien in seinem Reich energisch entgegen. Da er sich zu Studienaufenthalten in Westeuropa aufgehalten hatte, konnte er sich zudem einen Namen als kultivierter Reformer machen, was in Achleitners Bericht voll zum Tragen kommt. Der Autor entwirft für Montenegro das Bild eines stolzen, aber besonnenen Serbentums, das sich vom serbischen Königreich unterscheidet.
Von Leiss wird der politische Hintergrund der Region hingegen kaum gestreift. Dennoch enthalten seine Beschreibungen recht deutliche Bewertungen von Menschen und Gesellschaft des nach dem Ersten Weltkrieg neu entstanden slawischen Staates. Hier offenbart sich die Kehrseite der Paradiessuche des Autors: Die Menschen erscheinen häufig als wenig intelligente Relikte primitiver Gesellschaftsformen, die das Szenario eines technisch und industriell wenig entwickelten Landes illustrieren. Eine grobe Pflanzenmühle betitelt er als »urzeitlich«. Ein besonderes Plädoyer für eine »Führerauslese« entwickelt Leiss bei der Beobachtung von Tieren. Nachdem er die in einer Kolonne von Schmetterlingsraupen die vorderste entfernt hat, sieht er durch das ausbrechende Chaos seine Lehre vom »geborenen Führer« voll bestätigt.
Im Vergleich der beiden Reiseberichte tritt deutlich zu Tage, dass sich innerhalb von zwanzig Jahren nicht nur die Art des Reisens geändert hat, sondern auch die Haltung gegenüber den Menschen des fremden Landes. Achleitner verzichtet auf qualitative Vergleiche mit seinem Heimatland. Für ihn ist die Habsburger Monarchie das große, ordnungsstiftende System, das den Menschen ihre Eigenheiten lässt. In Leiss' Betrachtungsweise ist die monarchistische Ordnung Europas weggefallen. Sie wird durch eine Konkurrenz der Völker ersetzt, bei der der Wert eines Volkes durch Forschritt und technische Errungenschaften entschieden wird.