Globalisierung und auf der einen, Studiengebühren und auf der anderen Seite. Wenn nur noch der Markt herrscht, welche Gestaltungsspielräume gibt es dann noch? Findet angesichts selbstgemachter leerer Kassen Bildungspolitik überhaupt noch statt? Welche Perspektiven hat die studentische Protestbewegung? Und wie beantworten studentische AktivistInnen in dieser Situation die alte Frage des Was tun? Die philtrat bat VertreterInnen der Alternativen Liste, Attac, der PDS und der SAV zum Gespräch.
Angesichts der zunehmenden Globalisierungen scheinen gesellschaftliche Akteure wie Staaten oder auch Gewerkschaften zunehmend an Handlungsfähigkeit zu verlieren.
Andrea: Im Augenblick gewinnen Verteilungskämpfe an Schärfe. Gleichzeitig verlagern sich die Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen: auf internationale Regime wie GATS und auf transnationale Konzerne, die zwischen der Politik und zwischen den Staaten agieren. Politik verliert dagegen immer mehr an Einfluss und an Steuerungsmöglichkeiten. Das ist einerseits ein Prozess, an dem die Politik nicht beteiligt ist, andererseits fördert sie ihn auch.
Guido: Meiner Ansicht nach ist darauf aber wiederum eine Antwort gekommen: Seattle ist vielleicht ein Stichwort dafür. Es ist eine Bewegung entstanden, zu der zum Beispiel Attac gehört, die von der Globalisierung ausgeht und sich nicht zu schade ist, auf lokale oder innenpolitische Themen einzuwirken.
Hannes: Die Regierungen verlieren in der Tat einerseits sehr viel an Macht und an Einflussmöglichkeiten, andererseits werden sie quasi dazu degradiert, großen Konzernen die Rahmenbedingungen zu schaffen. Mit Blick auf die Alternativen hatte man lange das Gefühl, dass es kaum eine Gegenbewegung gibt. Da war ein leerer Raum, den jetzt vielleicht Attac füllen kann. Vielleicht kann Attac auch ganz viele Gruppen zusammenbringen.
Markus: Ich glaube, dass der Staat vor allem seine Rolle ändert. Er wird von einem so genannten Versorgungs- oder Wohlfahrtsstaat zu einem Kontroll- oder Überwachungsstaat. Andererseits wird er aber auch zum so genannten schlanken Staat, der nur noch Rahmenbedingungen vorgeben will, innerhalb derer sich alles weitere nach ökonomischen Kriterien entwickeln soll.
Wenn man sich das am Beispiel der Hochschulen ansieht, stattet der Staat StudentInnen mit so genannten Studienkonten und Hochschulen mit einem gewissen Budget aus. Dann sollen marktwirtschaftliche Kräfte wirken. StudentInnen und Hochschulen sollen jeweils untereinander konkurrieren. Der Staat zieht sich aus seiner politischen Verantwortung beziehungsweise aus seiner politischen Gestaltungskraft zurück.
Wenn der Staat an Macht verliert, gibt es dann auch keine eigene Bildungspolitk mehr?
Andrea: Auch Bildungspolitik muss man immer im Kontext von Verteilungskämpfen sehen. Das Schröder-Blair-Papier hat gezeigt, dass die SPD und die Grünen eine neoliberale Definition von Verteilungsgerechtigkeit vorgeben. Es geht nicht mehr darum, von oben nach unten umzuverteilen, sondern um die Herstellung einer angeblichen »Chancengleichheit«, die keine ist, sondern lediglich das Abmildern einer sozialen Selektion in unteren Bildungsstufen. Wer nach einer garantierten Grundausbildung nicht mehr mit der Spitzengruppe mithalten kann, ist selber Schuld.
Hannes: Ich denke, dass die aktuelle Bildungspolitik und vor allem die Einführung von Studiengebühren im Kontext der neoliberalen Globalisierung zu sehen ist, die unter anderem durch GATS verkörpert wird. Die EU hat die Bildung zwar schon teilweise liberalisiert, aber hat noch eine Blockade auf die GATS-Verhandlungen gelegt. Sollte diese aufgehoben werden, würde die Bildung zum überwiegenden Teil liberalisiert werden. Die Bedingungen, die der Markt stellt, sollen erfüllt werden.
Guido: Das ist aber ein weltweites Problem. Nach Einschätzung des Unternehmensberaters Merryl Lynch beläuft sich der Wert des weltweiten Bildungssektors jährlich auf zirka 2200 Milliarden US-Dollar. Die UnternehmensberaterInnen sehen die Möglichkeit, in nur zehn Jahren den Bildungssektor weltweit zu privatisieren. Und das nicht, um die Hochschulen effektiver zu machen, sondern in erster Linie, weil 2200 Milliarden US-Dollar irgendwo dem Markt nicht zugänglich gemacht worden sind.
Markus: Ich glaube nicht, dass es in der Bildungspolitik darum geht, den kompletten Bildungssektor zu privatisieren. Für die Wirtschaft lohnt es sich nicht, den kompletten Sektor Bildung zu finanzieren. Ich gehe davon aus, dass wir immer einen großen öffentlichen Bildungssektor haben werden, für dessen Kosten der Staat aufkommen muss. Ein großer Bereich im Bildungssektor lässt sich jedoch wirtschaftlich nutzen, und den möchte man privatisieren. Im restlichen Sektor ist entscheidend, dass nach ökonomischen Kriterien vorgegangen wird.
Guido: Ich wollte das auch nicht so verstanden wissen, dass es darum geht, in den nächsten zehn Jahren alles zu privatisieren, aber dass Profite zu erwirtschaften sind, die bisher zwar nicht verborgen, aber in öffentlicher Hand sind.
Andrea: Bildung bedeutet auch, dass StudentInnen die Zeit haben, Dinge neben der Bildung auszuloten, zum Beispiel sich zu politisieren. Das »Allgemeinpolitische Mandat« ist dafür wichtig, aber ein Vorstoß der PDS, die verfasste StudentInnenschaft rechtlich abzusichern, ist im letzten Jahr nicht durchgekommen und bleibt somit wahrscheinlich für die nächsten hundert Jahre eine offene Frage.
Markus: Ich glaube, dass deutlich wird, dass Bildung nicht als ein Menschenrecht angesehen wird, das Menschen einfordern können, wie es zu einer demokratischen und emanzipatorischen Gesellschaft gehören würde. Stattdessen wird Bildung mehr und mehr auf eine Veredelung der eigenen Arbeitskraft reduziert. Man soll auf eigenes Risiko in diese Bildung investieren, man soll damit auf dem Arbeitsmarkt klarkommen, jedeR ist also »seines Glückes Schmied«. Dementsprechend gibt es natürlich keinen Grund, warum man Bildung für alle gewähren sollte. Es reicht, wenn eine entsprechende Menge an Arbeitskraft produziert wird.
Die aktuelle sozialdemokratische Bildungspolitik versucht ja durchaus, im Grundschulbereich Dinge besser zu gestalten, zum Beispiel mit Ganztagsschulen und mit mehr Geld für Grundschulen. Ziel ist, die Basis derer, die später ein Studium wahrnehmen, ein wenig zu erhöhen und die Ressource Arbeitskraft sinnvoller zu nutzen. Anschließend vertraut man aber darauf, dass der Arbeitsmarkt das regeln wird und dass sich aus dieser breiteren Menge gut ausgebildeter GrundschülerInnen durch das dreigliedrige Schulsystem und das anschließende Ausbildungssystem die geeigneten Arbeitskräfte finden lassen.
Guido: Es gilt: »Teile und Herrsche«. In der Bildungspolitik wird geteilt zwischen dem/der guten RegelstudienzeitstudentIn und den schlechten, nichts einbringenden LangzeitstudentInnen. Wenn die Studiengebührenregelung wie geplant umgesetzt wird, werden zehntausende StudentInnen in Nordrhein-Westfalen eine neue Lebensplanung entwerfen müssen.
In NRW ist ja ganz deutlich gesagt worden, dass mit Studiengebühren nur ein Haushaltsloch gestopft werden soll. Man holt Geld da, wo man es holen kann. Wo ist da die Bildungspolitik?
Guido: Ich finde, dass man gerade in NRW beim Thema Studiengebühren die Zusammenhänge sehen kann. Der Vorschlag kam nicht vom Bildungs-, sondern vom Finanzministerium. Das ist bezeichnend. Die zentrale Frage ist, für wen überhaupt Politik gemacht wird. Es gab eine Zeit, in der auch das BAföG eingeführt wurde, in der Studieren auf jeden Fall »netter« war als heute oder zukünftig.
Die Körperschaftssteuer wurde gesenkt. Im Jahr 2000 erhielten Bund und Länder noch über 23 Milliarden Mark aus dieser Quelle - im Jahr 2001 mussten sie sogar zwei Milliarden an die Konzerne zurückzahlen! Das Haushaltsloch in NRW ist maßgeblich durch die Steuerreform entstanden. Und jetzt wird der Versuch unternommen, dieses Loch wieder zu stopfen. Das Geld soll nicht da geholt werden, wo Profite gemacht werden, sondern da, wo der geringste Widerstand erwartet wird. Vielleicht wird davon ausgegangen, dass StudentInnen wenig politisiert sind, nicht kampfbereit sind und keine einflussreiche Lobby haben.
Andrea: Aufschlussreich ist zudem, dass StudentInnen die klassische rot-grüne Klientel sind und somit bei den eigenen WählerInnen gespart wird. Das ist sicher eine Sache, die einer längeren Betrachtung wert ist. Andererseits verwirklicht sich dadurch natürlich auch ein bundespolitisches Konzept.
Als sich im letzten Streik 1997 alle Parteien mit den Zielen der StudentInnen solidarisiert haben, und die bessere Ausstattung der Hochschulen gefordert wurde, gab es massenhafte Absichtserklärungen, dass man sich dem nicht verschließen wolle. Jetzt spielt es überhaupt keine Rolle mehr, die Massenuniversität tatsächlich so auszustatten, dass alle StudentInnen in der Lage wären, ihr Studium gut und auch schneller durchzuführen, wenn sie das wollen.
Markus: Man kann bei allen bildungspolitischen Maßnahmen immer gleichzeitig vorhandene verschiedene Motivationen feststellen. In den Sechziger- und Siebzigerjahren - der Zeit der so genannten Bildungsreform - gab es einen gewissen emanzipatorischen und solidarischen Anspruch, dass Bildung für alle da sein muss. Die Folge war die Einführung des BAföG, die Öffnung der Hochschulen, die Abschaffung der Studiengebühren und die Einführung von Gesamtschulen und Gesamthochschulen. Ich glaube aber auch, dass es gleichzeitig eine ökonomische Notwendigkeit gab, entsprechende Arbeitskräfte heranzuschaffen, da es einen Fachkräftemangel gab.
Ich glaube, dass wir es vor allem mit zwei Phänomenen zu tun haben. Zum einen mit dem Willen Geld heranzuschaffen, der aus dem Finanzministerium kommt, und zum anderen mit dem Wunsch, alles neu zu strukturieren, der aus dem Bildungs- und Wirtschaftsministerium stammt. Diese Vorstellungen manifestieren sich meiner Meinung nach vor allem im Studienkontenmodell. Wenn der Staat im Moment nicht ganz so pleite wäre, hätte man sich die Debatte um Studiengebühren zum Stopfen des Haushaltslochs auch sparen können. Das war eher der Nebeneffekt, der da zutage kommt.
Hannes: Ich glaube, dass das Haushaltsloch und die Studiengebühren nicht zwangsläufig zusammenhängen. Ich glaube, dass der Plan zur Einführung von Studiengebühren eine grundsätzliche Sache ist. Das wird über kurz oder lang nicht nur in NRW aktuell sein. Die Debatte um Studienkonten und Bildungsgutscheine gibt es schon lange - auch ohne das Haushaltsloch. Dass man sich jetzt das Geld gerade von den StudentInnen holt, zeigt, dass der Stellenwert der Bildung doch nicht so hoch ist, wie immer gesagt wird. Es fehlt im ganzen Bildungssektor an schlüssigen Konzepten. Man hat aus der PISA-Studie nichts gelernt. Alle bisherigen Änderungsvorschläge sind nichts als Schnellschüsse gewesen. Es werden Ganztagsschulen eingeführt, und vielleicht bekommen die Schulen sogar ein bisschen mehr Geld, es steht aber kein wirkliches Konzept dahinter.
Markus: Wir werden meiner Einschätzung nach 2004 beziehungsweise 2006 die gleiche Beobachtung machen, wenn die Studiengebühren zur Hälfte beziehungsweise komplett in die Hochschulen fließen sollen. Dann werden wir wieder zwei Motivationen feststellen können. Es kann sein, dass sich 2004, wenn die Bestandsgarantie des Qualitätspaktes ausläuft, wieder das Finanzministerium durchsetzt. Mittel, die dann an die Hochschulen fließen, könnten dann wieder im Personaletat gestrichen werden. Es kann aber auch sein, dass die Mittel von den Hochschulen selber gewinnbringend eingesetzt werden müssen und damit gewirtschaftet werden muss. Wir werden dann sehen, welche Motivation sich durchsetzt, beziehungsweise ob sich beide Motivationen clever verbinden lassen.
Guido: Dabei fehlt mir der Verweis auf die sozialen Bewegungen. Du hast jetzt die unterschiedlichen Motivationsstränge dargestellt. Mir ist das zu einseitig darauf geschaut, was man von oben sieht und erwartet. Festzuhalten ist doch, dass es momentan noch an Druck von der Gegenseite fehlt. Was wir bis jetzt gesehen haben, ist ja auch bemerkenswert. Man darf sich nicht nur diktieren lassen, wogegen man zu sein hat, sondern man muss auch weiterkommen und seine eigene Interessenlage zum Ausdruck bringen.
Waren studentische Bewegungen bisher nicht immer von kurzer Dauer und haben sich auf die Hochschulen beschränkt?
Guido: Genau hier gibt es aber meiner Ansicht nach eine neue Qualität. Im letzten Semester haben sich Gruppen von StudentInnen getroffen, die versucht haben, mit ArbeitnehmerInnen zusammenzuarbeiten. Gerade zu der Zeit gab es den Streik der IG Bau; es gab StudentInnendelegationen, und auf Vollversammlungen sind Resolutionen verabschiedet worden, die konkret die Angestellten der StudentInnenwerke und den akademischen Mittelbau angesprochen haben, weil sie genauso von den Stellenstreichungen betroffen sind. Zudem wurde versucht, mit den streikenden BauarbeiterInnen zusammenzugehen.
Andrea: Ich denke auch, dass da ein richtiger Weg beschritten wurde. StudentInnenproteste werden zumindest nach meinem Eindruck in der medialen Öffentlichkeit sehr stark als Klientelpolitik wahrgenommen, die Privilegierte - wie es angehende AkademikerInnen in den Augen der Bevölkerung sind - noch privilegierter machen will. Deswegen ist es absolut notwendig, das Ganze zu verknüpfen mit gesellschaftlicher Verteilungspolitik. Die PDS hat ein schönes Plakat mit dem Text »Mehr Geld für Schulen«, und im Hintergrund ist ein Starfighter zu sehen. Man muss die Frage aufwerfen, wofür Geld ausgegeben wird. Geld ist in der Bundesrepublik ja genügend da.
Hannes: Ich musste gerade an den »taz«-Artikel de nken, der die StudentInnen als reine LobbyistInnen dargestellt hat. Ich fand diesen Artikel unverschämt. Ich denke, dass die Proteste viel weiter gegriffen haben. Am Anfang standen natürlich die Studiengebühren. Aber dann wurde diskutiert, was dahinter steht. Und man hat gemerkt, dass man viel weiter greifen und das Ganze im größeren Zusammenhang sehen muss. Bei den Vollversammlungen an der PH war immer dieser weite Blick dabei, bis hin zu WTO und GATS. Natürlich gab es auch die andere Seite, die nur ihre Situation gesehen hat.
Markus: Studentischer Protest läuft natürlich immer Gefahr, dass eine ständische Klientelpolitik entsteht. Genauso wie es verschiedene Motivationen gibt, Studiengebühren einzuführen, gibt es verschiedene Motivationen, Studiengebühren abzulehnen. Dabei wird aber unter Umständen ausgeklammert, dass, wenn bei uns nicht gespart wird, garantiert keine höheren Steuern für Besserverdienende oder für Wirtschaftsunternehmen eingeführt werden. Damit wird in der SPD zum Teil auch ganz offen operiert. Edgar Moron, der Fraktionsgeschäftsführer der SPD im Landtag, hat gesagt, wer Studiengebühren ablehnt, müsse auch sagen, bei welchen anderen Gruppen gespart werden soll, ob bei der AIDS-Hilfe oder in anderen Bereichen. Dabei gibt es dieses »entweder-oder« gar nicht; in all diesen Bereichen wird gekürzt werden.
Aus genau dieser Motivation heraus, nämlich die Studiengebührenfrage nicht als studentische Klientelpolitik zu betreiben, hat die AL die Gründung des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren mit angestoßen. Für die Gründung war auch entscheidend, dass nicht nur studentische VertreterInnen zusammensitzen sollten, sondern dass es von vorneherein als ein gesellschaftliches Bündnis angelegt war, mit Gewerkschaften, mit Verbänden, mit Einzelpersonen, um an einem konkreten Beispiel, nämlich der Einführung von Studiengebühren, gemeinsam zu arbeiten.
In Zukunft werden wir es aber damit zu tun haben, dass Studiengebühren weniger aus fiskalischen Gründen oder als Strafe eingeführt werden, sondern um Bildung ökonomisch zu lenken. Deshalb kann eine studentische Bewegung nur erfolgreich sein, wenn sie die Lage analysiert und ihre Forderungen nicht nur für sich formuliert, sondern gemeinsam mit anderen Gruppen kämpft, die von Kürzungen bedroht sind. Wenn die StudentInnen das nicht wollen, dann haben sie es nicht verdient, erfolgreich zu sein.
Wenn es Studiengebühren in einem anderen Bundesland geben würde, würden hier die StudentInnen wahrscheinlich auch nicht auf die Straße gehen...
Markus: Als es hier losging, ist in Rheinland-Pfalz die Universität Trier aus Solidarität in den Streik getreten. Im Moment sind das Einzelfälle, und das ist auch das größte Manko der studentischen Bewegung. Die Proteste in Hamburg sind an der Philosophischen Fakultät zwar aufgegriffen worden, und man hat sich solidarisiert. Aber das hatte wohl auch damit zu tun, dass man gerade selber im Kampf gegen das geplante Landeshochschulgesetz war. Wir müssen dahin kommen, dass den Leuten klar ist, dass es uns etwas angeht, wenn in einem anderen Bundesland Sozialkürzungen oder Studiengebühren drohen. Aber es geht uns genauso an, wenn in NRW oder in Sachsen-Anhalt die Gelder für Schulen oder für SozialhilfeempfängerInnen gekürzt werden. Das ist ein hoher Anspruch an so eine Bewegung, aber längerfristig ist er unumgänglich.
Hannes: Für eine große deutschlandweite oder natürlich noch besser weltweite StudentInnenbewegung ist es notwendig, zu sagen, was wir wollen. Wir haben bis jetzt immer nur gesagt, was wir nicht wollen. Man muss etwas entwickeln, wofür wir sind. Wir können nicht dafür sein, dass die Ausbildung vom Kindergarten bis zur Hochschule inklusive der betrieblichen Ausbildung so bleibt, wie sie ist. Die Bedingungen sind in hohem Maße sozial ungerecht. Wir müssen anfangen, konstruktiv etwas Neues zu entwickeln.
Andrea: Könnte Attac nicht ein Dach sein, um diese zu organisieren?
Hannes: Attac-Hochschulgruppen gibt es noch nicht viele. Ich denke aber schon, dass Attac dabei eine Rolle spielen könnte, aber man kann nicht sagen, dass es jetzt die Aufgabe von Attac ist, StudentInnenproteste oder die StudentInnenbewegung aufzubauen. Ich denke, so eine Bewegung ist sehr vielfältig und kann natürlich deshalb auch unter dem Dach von Attac stattfinden. Man muss aber aufpassen, dass Attac da nicht zu großes Gewicht gegeben wird. Es gibt auch Leute, die gar nichts mit Attac zu tun haben wollen oder nicht direkt in Attac mitarbeiten wollen.
Der Vorteil einer Attac-Hochschulgruppe ist, dass auch Leute aus den anderen Hochschulgruppen teilnehmen können. Und zwar ohne die parteipolitischen Spielchen der Gruppen, die ja ohne Zweifel existieren. Eine Kooperation ist dadurch besser gegeben. Es gibt einfach zu viel Streit zwischen linken Gruppen.
Markus: Wenn man sich ansieht, dass gerade die sozialdemokratische Bewegung, dass gerade auch die postmaterialistische grüne Bewegung, die aus den Neuen Sozialen Bewegungen entstanden ist, Studiengebühren einführen, stelle ich mir allerdings die Frage, ob eigentlich nicht genug gestritten worden ist innerhalb der Linken. Ich glaube, dass Streit zur linken Bewegung dazugehört, dass man um die richtigen Konzepte, Positionen und Strategien streiten muss. Man kann ja auch nicht einfach sagen, die Linke muss sich mehr vertragen. Das macht es zu einfach und verkennt einfach auch, welche zum Teil fundamental unterschiedlichen Konzepte linke Gruppierungen haben.
Guido: Klar. Aber nicht Spalterei oder Sektierertum per se. Du hast die sozialdemokratische Bewegung erwähnt. Die Mitglieder der SAV waren ja zuvor GenossInnen in der SPD. Weil sie den Ansatz vertreten haben, dass es eine Massenpartei gibt, die jedenfalls nach eigener Definition die Interessen der Lohnabhängigen im Land vertritt. Sie sind gegen Wände gelaufen, hatten dort keine Perspektive mehr und sind schließlich ausgetreten.
Wir hatten ja recht: Rot-grün hat die MigrantInnengesetze so gelassen beziehungsweise verschärft. Oder dieser so genannte Konsens, der vom Wortsinn kein Konsens ist, nämlich der angebliche Atomausstieg. Beschlossen wurde, dass die deutsche Atomindustrie in den nächsten dreißig Jahren mehr Atommüll produzieren darf, als sie seit Bestehen des ersten Atomkraftwerkes insgesamt produziert hat. Die Linke muss diese Sachverhalte in die Bewegung reinbringen und die Zusammenhänge klarmachen.
Es gibt natürlich auch so unsägliche Geschichten von irgendwelchen linken Gruppen, die dazu aufrufen, Stoiber zu verhindern. Ich finde dies irreführend und illusionär und damit übrigens auch gefährlich.
Geht das an diesem Punkt etwas genauer?
Guido: Ich will nicht, dass Stoiber Kanzler wird. Aber es ist ein Fehler, eine Kampagne gegen Stoiber zu führen, ohne zu sagen, dass das, was jetzt ist, eine Fortführung von dem ist, was vorher war, nämlich der Kohl-Regierung.
Andrea: In der Anti-Stoiber-Kampagne wird meiner Ansicht nach nicht ausgeblendet, dass Schröder eine beschissene Alternative ist. Warum keine Schröder-Kampagne, wenn du nicht willst, dass Stoiber Kanzler wird?
Guido: Weil ich auch nicht will, dass Schröder Kanzler bleibt.
Andrea: Wie willst du denn verhindern, dass einer von beiden Kanzler wird?
Guido: Ich finde es nicht nötig, diese Situation als Dilemma zu sehen.
Andrea: Klar ist es ein Dilemma, dass Schröder scheiße ist. Du hast die Wahl zwischen zwei total beschissenen Alternativen. Du hast aber eine Alternative, die dir noch beschissener vorkommt als die andere.
Guido: Wo es gerade um Pest und Cholera geht: Die Sozialistische Alternative ist ja nicht »nur« und allein Sozialistische Alternative sondern eine von, ich glaube, 36 Parteien weltweit. Wir sind international organisiert und eine Schwesterorganisation ist die gauche revolutionaire in Frankreich. Dort hatten wir vor ein paar Monaten nicht nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, sondern zwischen Chirac und Le Pen. Da gab es dann einen Aufruf hauptsächlich von der Sozialistischen Partei, also der französischen Sozialdemokratie, für Chirac.
Man muss sich auch angucken, warum Chirac gewählt worden ist. Die »Sozialistische Partei« hat soviel privatisiert wie keine konservative Partei zuvor. Die ArbeitnehmerInnenschaft in Frankreich ist desillusioniert. Und dann komme ich zu der Frage zurück: Wessen Interessen werden hier eigentlich vertreten? Ich darf mich nicht darauf versteifen, der oder der, dann nehme ich lieber das kleinere Übel. Ich muss sagen, warum es überhaupt ein Übel ist. Das ist der essenzielle Punkt. Das Dilemma in Deutschland liegt darin, dass wir keine Alternative haben. Der/die ArbeitnehmerIn hat in Deutschland keine Partei, die er/sie wählen kann.
Andrea: Da würde ich dir jetzt widersprechen.
Guido: Der linke Ansatz muss sein, eine Bewegung aufzubauen und klar zu machen, dass die Verhältnisse so liegen, wie ich sie gerade beschrieben habe. Es muss das Bewusstsein geschaffen werden, eine neue Kraft aufzubauen. Gerne mit der PDS zusammen, wenn sie nicht in Köln Spuckies »gegen Privatisierung« klebt und in Berlin privatisiert.
Hannes: Bei der Veranstaltung mit Stoiber auf dem Heumarkt waren etliche GegendemonstrantInnen. Als Schröder da war, waren es die üblichen drei Leute. Das ist eine schwierige Situation. Dass man Schröder, nur weil man nicht will, dass Stoiber gewählt wird, derart schont, finde ich ein bisschen schwierig. Rot-grün ist eigentlich keine Alternative. Natürlich ist Stoiber noch schlimmer. Im Grunde wird viel gegen Stoiber und auch für Schröder demonstriert.
Markus: Ich glaube, dass man sich verzettelt, wenn man versucht, zwei Charaktermasken, also Stoiber und Schröder, auf einer Skala von »gut« bis »scheiße« einzustufen, und dann zu der Entscheidung kommt, ich wähle den, der auf der Skala weiter in Richtung »gut« liegt. Ich habe zum Teil dieselbe Kritik an Schröder wie an Stoiber. Ich habe aber zum Teil unterschiedliche Gründe, warum ich Stoibers Politik scheiße finde und warum ich Schröders Politik scheiße finde. Die entscheidende Frage ist nicht, wer das geringere Übel ist. Wir müssen klar machen, dass grundsätzliche Sachen nicht stimmen. Dass offensichtlich parlamentarische Demokratie, wenn sie in ein kapitalistisches Wirtschaftssystem eingebettet ist, keine wirklichen Alternativen bietet.
Andrea: Parlamentspolitik reicht einfach nicht. Deswegen steht ja zum Beispiel in unserem Grundsatzprogramm, dass soziale Bewegungen notwendig sind und parlamentarische Arbeit dazu da ist, diese Bewegungen zu flankieren und ihnen mediale Aufmerksamkeit zu verleihen. Wir arbeiten ja auch mit anderen linken Gruppen und Parteien zusammen, in der Frage der Privatisierung in Köln zum Beispiel mit der SAV.
Natürlich nimmt sich die Politik von Schröder oder Stoiber nichts. Aber viele Leute gehen davon aus, dass es unter Stoiber trotzdem noch mehr Verschärfungen geben wird, zum Beispiel im Bereich der Inneren Sicherheit. Um da kein Risiko einzugehen, halte ich es für legitim, Schröder als das kleinere Übel zu bezeichnen. Meiner Meinung nach stimmt nicht, was Guido angemahnt hat: dass die Debatte jetzt nur noch rein taktisch geführt wird und vollkommen vergessen wird, dass Schröder eine kaumvon Stoiber unterscheidbare neoliberale Politik macht. Das ist natürlich immer Thema. Trotzdem sollte man diese taktische Alternative nicht aus dem Blick verlieren. Die Situation ist nicht mit der in Frankreich vor der Stichwahl zu vergleichen. Auch dass es Chirac-Aufrufe gab, die verschämt seinen Namen nicht genannt haben. Das hängt damit zusammen, dass es für die Linke in einer derartigen Situation schwer ist, »wählt Chirac« zu sagen.
Guido: In Frankreich ist es so gewesen, dass wir zu »weder noch« aufgerufen haben; um zu versuchen, aus den Massenprotesten nach dem ersten Wahlgang, die es ja gegeben hat, mehr als einen schlichten Wahlaufruf für Chirac herauszuziehen. Unser Ansatz ist es, das objektiv wichtige Thema Wahlen für politische Arbeit zu nutzen. In dieser Phase der Politisierung zu versuchen, Ideen hinzutragen und eine Bewegung zu stärken, zu definieren, zu verteidigen und auch weiterzubringen.
Was wäre die Quintessenz der heutigen Debatte, was sollte die Linke tun?
Guido: Bemerkenswert fand ich, dass es am 1. Mai des letzten oder vorletzten Jahres in London (der 1. Mai ist in England kein Feiertag, und trotzdem gab es große Kundgebungen) ein Transparent mit dem Spruch »overthrow capitalism and replace it with something nicer« gab. Der Spruch ist bezeichnend für die gesamte Situation. Es gibt eine Tendenz, dass sich Leute von ihrem Repräsentationsapparat entfremden, um die politische Ebene mal so zu bezeichnen.
Das spiegelt sich übrigens auch wider in der Zahl der Wahlenthaltungen. Die Leute denken, dass sie permanent verarscht werden. Das liegt neben subjektiven Schwierigkeiten ganz einfach auch daran, dass vor ein paar Monaten erst 60000 Unterschriften gegen die Privatisierung von GAG und Grubo eingereicht wurden, die von der CDU wegen eines Formfehlers in die Mülltonne geschmissen wurden. Ich finde, unsere Aufgabe muss es sein, die Gründe hierfür offenzulegen: nicht nur das »dass«, sondern auch das »warum«.
Ein Aspekt fehlte mir in unserer Diskussion. Es ist im Verlauf unserer Unterhaltung vielleicht siebenmal das Wort »neoliberal« gefallen. Ich will darauf hinweisen, dass wir zur Zeit auch in einer keynesianistischen Phase leben könnten, und nichts würde besser sein. Auch der Kapitalismusbegriff ist heute überhaupt nicht zur Sprache gekommen. Dieser Ausblick fehlt.
Andrea: Wir sind, glaube ich, einer Meinung, dass es nicht darum geht, unangenehme Symptome des Kapitalismus zu kurieren, und dass es auch nicht darum gehen kann, rein parlamentarische Politik zu betreiben. Wichtig ist, die Bewegung zu stärken und breit zu machen. Es geht um langen Atem.
Hannes: Ich denke, es sollte uns darum gehen zu zeigen, dass die Menschheit nicht den Marktkräften unterworfen gehört. Die Marktkräfte sind keine Naturgesetze, wie es immer dargestellt wird. Sie sind von Menschen gemacht, und man kann sie berichtigen oder außen vorlassen. Wenn man möchte, dass Menschen nach ihren eigenen Vorstellungen leben mit einer ausreichenden materiellen Basis, muss man sich eingestehen, dass das ein kapitalistisches System nicht für alle leisten kann. Das kann es nur für einen kleinen Teil der Menschen.
Markus: Politik ist immer Ausdruck oder Folge sozialer Kämpfe, und so hat man es geschafft, die Sklavenhaltergesellschaft und den Feudalismus zu überwinden, und so hat man es auch geschafft, dem kapitalistischen System gewisse Zugeständnisse abzuringen. Ich finde es auch wichtig, solche Zugeständnisse zu verteidigen, weil es für die konkrete Situation eines Menschen einen Unterschied macht. Aber darin darf sich linke Politik nicht erschöpfen. Es muss immer die Perspektive da sein, dass man neue bessere Gesellschaftsformen erringen und erarbeiten muss. Und dass geht natürlich nur, wenn man einen Begriff von Solidarität und Menschenrechten hat und in der Politik aktiv umsetzt. Ich finde, dass linke Politik auch spürbar sein muss. Wie zum Beispiel, wenn sich Leute aus meiner Hochschulgruppe an Kämpfen gegen Studiengebühren beteiligen oder als FachschafterInnen Leuten bei ihrem Studium helfen. Das sind kleine Sachen, die aber einfach eine Perspektive bieten, wie eine bessere Gesellschaft aussehen kann. Man kann nicht gegen etwas Schlechtes kämpfen, wenn man nicht gleichzeitig neue Formen des Zusammenlebens entwickelt, weil die neue Gesellschaft auch immer im Schoß der alten Gesellschaft heranreift.