Nouvelle chanson française

Junge französische KünstlerInnen setzten sich auf Frankreichs Musikmarkt in den letzten Jahren immer mehr gegen englischsprachige Importe durch. Eine kleine Auswahl quer durch die Genres. Von Raphaela Häuser

Dominiert in Deutschland vor allem englischsprachige Musik den Markt, hat sich gegenläufig dazu in Frankreich ein fähiger Nachwuchs im Bereich der muttersprachlichen Musik entwickelt. Die Gründe für dieses Phänomen liegen vor allem bei der Sprachüberwachung der Académie Française, die penibel den »Einfall« fremdsprachiger Einflüsse in Frankreich kontrolliert: Quotierung der Radioprogramme, in denen siebzig Prozent französischsprachige Musik gespielt werden muss, FernsehmoderatorInnen, die zu viele englische Wörter benutzen, zahlen Strafe. Mag diese Regulierung noch so lächerlich sein, das Ergebnis kann sich sehen lassen. In nahezu allen Musikrichtungen brillieren französische MusikerInnen auf dem heimischen Markt, die im Gegensatz zu deutschen Pop-Sternchen aus der RTL-Retorte und singenden Soap-DilettantInnen Musik und Texte in den meisten Fällen noch selber schreiben.

Chanson

Thomas Fersen, Solist mit rauchiger Stimme, kreiert seinen eigenen Musikstil aus Anleihen bei Jazz-Musik, lateinamerikanischen Rhythmen und »Tsigane«-Musik.

Auf dem noch deutlich mainstream-angehauchten Debüt Le bal des oiseaux von 1993 überzeugt Fersen neben einer musikalischen Adaption von Jacques Préverts Gedicht Pour toi mon amour auch mit seinen eigenen Texten, wenn auch noch nicht mit dem von späteren Alben gewohnten eigenen Profil.

1995 und 1997 erscheinen Le jour du poisson und Les ronds de carottes. Stilistisch sehr nahe beieinander liegend, tragen beide musikalisch und textlich eine deutlich persönlichere Handschrift. Hier tauchen erstmals die für Fersen typischen Milieubeschreibungen und poetischen Fabelerzählungen auf. Vom Taschendieb in der Metro (Pickpocket) über das verwanzte Hotelzimmer (La Blatte) bis zum Vater, der seinen Sohn als Alibi für den Ausflug in die Kneipe braucht (Un temps de chien), und Wolf, Fisch, Wurm und Maus, die schwer mit Liebestaumel zu kämpfen haben (Que l'on est bête), bietet Fersen das volle Spektrum des ganz alltäglichen Wahnsinns. Nicht zuletzt zu erwähnen ist seine fantastische Interpretation des alten italienischen Partisanenliedes Bella Ciao auf Les ronds de carottes.

1999 gelingt Fersen mit Qu4tre ein weiterer Coup. Noch ausgeprägter humoristisch als die ersten Platten sorgen die gewitzten Texte für erfreuliche Überraschungseffekte - vom mordenden Nachbarn, dessen Butler die Leichen beseitigt, in Assassin bis zum Liebhaber im Stück Elisabeth, der sich beim Einkaufen um einige Jahre verspätet. Auch musikalisch ist die Weiterentwicklung im Vergleich zu früheren Alben deutlich sichtbar. Bleibt zu erraten, womit Fersen bei der nächsten CD überraschen wird. Gemessen am Zweijahresrhythmus, in dem seine Alben zwischen 1993 und 1999 erschienen, ist das fünfte Album längst überfällig…

Vincent Delerm, erfreuliche Neuentdeckung des Labels Tôt ou Tard, debütierte im Vorprogramm bei den Konzerten von Thomas Fersen. Im Frühjahr 2002 legte er seine erste eigene CD vor. Unwillkürlich gerät man ins Schmunzeln, wenn im Stück Tes parents mit sichtlich leidender Stimme ein Mann über die Eltern seiner Freundin spekuliert und dabei die volle Bandbreite der Klischees durchspielt und wenn sich in Monologue Shakespearien der Theatersaal leert. Überhaupt ist es diese Ironie, die viele Stücke so unterhaltsam macht. Und nicht zuletzt lässt schon das Cover im Filmrollenlayout ahnen, dass dies die CD für die CineastInnen unter den MusikliebhaberInnen ist - mit Titeln wie Deauville sans Trintignant (mit Einspielung aus Claude Lelouches Film Un homme et une femme) und wegen des wunderschönen Stücks Fanny Ardant et moi.

Leider, oder vielleicht auch glücklicherweise, lässt sich die musikalische Nähe zu Thomas Fersen, die Delerm teilweise auch als Abkupfern vorgeworfen wird, nicht leugnen. Vielleicht liegt es am gemeinsamen Team aus Joseph Racaille und dem Pianisten Cyrille Wambergue, die für einige Arrangements der beiden Interpreten verantwortlich zeichnen.

Mit Einflüssen von Weill über Brassens bis Prévert sind die Sprachakrobatiker von La Tordue in der Tradition des neorealistischen Chansons zu verorten. Die wohl einzige Band, die sich selber das Wort im Mund herumdreht. Seit 1990 liegt das Pariser Trio auf der Ka-Lauer: Silbendreher wie »le vent t'invite, la vie t'invente« gehören dabei ebenso zum Konzept wie der ausgeprägte Wortwitz à la »nous les anonymes, on n'paye pas de mine, oui mais des impôts, à tire-larigot« und die für La Tordue typischen Lautmalereien, Assonanzen und zungenbrecherischen Sprachspiele.

Momentan ist im Handel leider nur noch das letzte Album En vie erhältlich, das aber einen netten Konzertmitschnitt einiger der besten Titel bietet. Weitaus politischer in den Texten als Fersen und Delerm, bietet das Repertoire von La Tordue allerdings vom anarchistisch-ironischen Stück Y a bon la mine bis zum schlüpfrigen Les Lolos ein breites Spektrum.

Trotz reicher Instrumentierung erinnert der Sound zuweilen an A-Cappella-Musik. La Tordue singen im Chor, im Kanon oder ohne Instrumentierung und bereichern zudem ihre Musik mit vielseitiger Oralakustik. Das virtuose Wechselspiel zwischen Tuba, Ukulele, Violine, Saxophon, Bandoneon und Gitarre macht die Stücke zu einem musikalischen Hochgenuss.

Rock

Das bretonische Quartett Louise attaque, eine der wenigen auch in Deutschland bekannten Gruppen, ist vor allem seit dem Erscheinen seiner zweiten Platte Comme on a dit im Jahr 2000 Dauerbrenner in den französischen Charts. Und das zu Recht. Ließ zwar schon das erste - in Frankreich übrigens über zweimillionenfach verkaufte - Album Louise attaque Gutes ahnen, übertrifft sich die Band mit ihrem Folgealbum erfreulicherweise selbst. Im Stil ausgereifter und origineller stellt die Zweitveröffentlichung das Debüt bei weitem in den Schatten. Angelehnt an US-amerikanischen Folk-Rock ist Louise attaques Musik jedoch mehr als das. So ist zwischen den Einflüssen aus Rock-Musik und französischem Chanson im jagenden Rhythmus der Musik die Nähe zum Vorbild, der US-amerikanischen Punk-Band Violent Femmes, nicht zu überhören. Die Violent Femmes inspirierten auch zur Nameswahl. Louise attaques eigene Musik lebt dabei vor allem von der Stimme des Sängers Gaetan Roussel und vom Spiel des Violinisten Arnaud Samuel. Auf ihren Konzerten gehört der Part der Vorgruppe übrigens immer der AIDS-Hilfe, die unter den französischen Jugendlichen immer noch mal mehr, meistens aber weniger erfolgreich für die Nutzung von Kondomen wirbt.

Blankass präsentieren auf ihrer zweiten Platte L'ere de rien klassischen Rock mit anspruchsvollen französischsprachigen Texten. Das erste Album La couleur des blés ist leider inzwischen vergriffen und wird momentan nicht neu aufgelegt. Rauer E-Gitarrensound vermischt mit Elementen aus der keltischen Musik prägt den Stil von Blankass. Dennoch bleibt die Gruppe musikalischer Mainstream, allerdings weitaus textlastiger als beispielsweise Louise attaque. Im Gegensatz zu denen bietet Blankass zwar keinen originellen Musikmix, aber engagierte Parolen. Von kämpferischen Liedern wie Le silence est d'or und Ce que tu n'est pas bis zu Nachdenklicherem wie On n'est pas des chiens oder Mâitre à penser findet sich hier einiges für kritische MusikliebhaberInnen, die auch schon mal auf den Text hören.

Pop

Coralie Clements erste und leider noch einzige CD La salle des pas perdus wurde produziert von ihrem Bruder Benjamin Biolay, der sich seinerseits in Frankreich bereits einen Namen als Produzent der Alben von Keren Ann und Rose Kennedy gemacht hat. Er schrieb auch den Großteil der Texte und die Musik.

Mon nom ne vous dit rien singt die urplötzlich zu Ruhm gekommene 23-jährige Geschichtsstudentin im titelgebenden ersten Lied - das dürfte so nach dem durchschlagenden Erfolg des Albums nicht mehr stimmen. Vielleicht ein wenig zu unsicher in der Intonation und zuweilen etwas atemlos erscheint Clément, aber auch das macht den Reiz der Platte aus. Musikalisch ein ebenso origineller wie angenehmer Mix zwischen Bossa Nova und eingängigem Pop, können die überwiegend romantisch-melancholischen Texte leider nicht durchgehend überzeugen. Dennoch garantiert die Gesamtheit der Arrangements einen einzigartigen Hörgenuss.

Die Sängerin La grande Sophie stieg aus der Subkultur der selbstkreierten »Kitchen Miousic« aus, verließ im Jahr 2000 die verrauchten Hinterzimmerbars und entschied sich, ihr erstes Album mit dem Titel le porte-bonheur vorzulegen. La grande Sophie, die sich selber in der angelsächsischen Musiktradition sieht, tauscht damit Gitarre und Trommel gegen ein weniger minimalistisches Musikequipment aus. Dennoch bleibt das neue Musikschema - Eigenbezeichung »Between Miousic« - mit einfachen melodischen Stücken recht simpel und damit eher populär.

Klassische Discorhythmen mit Elektrosoundbegleitung und freche Texte machen diese CD zu typischer Partymusik. Die Themen sind dabei eher banal und erschöpfen sich im Bereich von Liebesliedern, aber auch das gehört zum Programm. Lediglich die Interpretation von Nancy Sinatras These boots are made for walking mit grauenhaftem französischem Akzent gerät ins Peinliche und ist eine Zumutung fürs Gehör.

Instrumentale Musik

Yann Tiersen, spätestens seit dem Soundtrack zu dem Film Die fabelhafte Welt der Amelie auch in Deutschland bekannt, verzaubert mit instrumentaler Musik, im Stil eine Mischung aus traditionellem französischem Chanson, Klassik und Walzer. Eingängige Melodien, die an französische Filmmusik der Fünfzigerjahre erinnern, aufwändig instrumentiert mit Violine, Mandoline, Xylophon, Akkordeon und Cembalo, geben Tiersens Musik ihre ganz eigene, fast barocke Note. Anfänglich Komponist für Theater- und Filmmusik hört man diesen Einfluss auch auf Tiersens Alben.

1995 debütiert er mit La Valse des Monstres, kurz darauf folgt Rue des cascades, beide Alben bleiben von der Öffentlichkeit mehr oder weniger unbeachtet. Und das völlig zu Unrecht! Der Durchbruch gelingt 1998 mit Le Phare, musikalisch weitaus farbloser als etwa die hervorragende Rue des cascades, dennoch ein schönes Album. 1999 kommt mit Tout est calme die erste Tiersen-Platte mit Rock-Einschlag auf den Markt. Gleichzeitig steht der Instrumentalist Tiersen hier erst- und einzigmalig selber am Mikrofon. Ein originelle Mischung aus Tiersens ganz eigener Musikrichtung und Mainstream-Rock. Enttäuschend ist allerdings, dass es die CD mit zehn Liedern auf gerade mal 27 Minuten Spielzeit bringt und zudem einige Titel noch ein Remix von Le Phare sind.

Sein legendäres Live-Konzert mit Musikgrößen wie Dominique A, Noir Désir, Têtes Raides und Neil Hannon im Rahmen der France Inter-Reihe Black Sessions erschien unter dem gleichen Titel auch auf CD, leider in limitierter Auflage und daher nur noch antiquarisch zu erwerben. Am 30. September erschien Tiersen neuestes Werk C'était ici.