Torsten Bultmann ist Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (BdWi). Die philtrat sprach mit ihm über Hintergründe der Studiengebührendebatte und die studentischen Proteste im letzten Semester. Das Gespräch führten Volker Elste und Jörg Huwer.
Früher waren Studiengebühren das Ziel der BefürworterInnen neuer bildungspolitischer Steuerungsmechanismen, heute erscheinen sie als Mittel fiskalpolitischer Maßnahmen. Würdest Du dieser These zustimmen?
Ich würde dies in dieser Trennschärfe nicht so gegenüberstellen, obwohl sich der Begründungskontext für Studiengebühren im Laufe der Jahre verändert hat. In der von Euch genannten Reihenfolge war es ursprünglich eher umgekehrt: Zuerst sollte die Unterfinanzierung der Hochschulen, die seit Ende der Siebzigerjahre andauert, durch einen privaten Kostenbeitrag kompensiert werden. Im Laufe der Neunzigerjahre und unter starkem Einfluss diverser politischen Stiftungen und Sachverständigenräte hat sich dann die Funktion des Studiengebührenthemas verschoben. Sie wurden zunehmend als ein Instrument zur Verwettbewerblichung des gesamten Hochschulsektors dargestellt, zum Beispiel der Steuerung des Bildungsverhaltens und der Steuerung der sonstigen institutionellen Hochschulfinanzierung. Das ist eigentlich aktuell der Hauptakzent.
Seit ein bis zwei Jahren kommt noch ein anderer Faktor hinzu. Über Studiengebühren werden nicht nur Fragen der Hochschulfinanzierung behandelt, sondern der Finanzierung des gesamten Bildungssystems. In Verbindung damit wird ein ideologisches Arrangement »sozialer Gerechtigkeit« transportiert, das ungefähr folgendermaßen lautet: Da die »frühen« Bildungseinrichtungen, also Grundschule, die Elementarbildung insgesamt beziehungsweise vorschulische Bildung unterfinanziert sind und man angesichts der knappen öffentlichen Kassen kein zusätzliches Geld hat, müsse man in den oberen Bildungsbereichen kürzen und Elemente privater Kostenbeteiligung durchsetzen, um einen Verteilungsspielraum zur Stärkung der »frühen« Bildung zu bekommen.
Wie würdest Du das Thema Studiengebühren in die generelle bildungspolitische Debatte der letzten zehn Jahre einordnen?
Studiengebühren waren in gewisser Weise immer auch ein Ersatzthema, um andere Interessen und bildungspolitische Absichten zu transportieren und den bildungspolitischen »Reformstau« aufzulösen. Seit den Siebzigerjahren hat im Bereich grundlegender Strukturen keine Entwicklung des Hochschulsystems mehr stattgefunden. Als Beispiel ließe sich die Selbstverwaltung anführen, die in dieser Form nicht mehr in die heutige Zeit passt. Auch sind Fragen der Finanzierung, der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und der Mitbestimmung gegenwärtig nicht gelöst. Die Lösung dieser Probleme transportiert man nun auf das Vehikel Studiengebühren.
Zum Beispiel stagniert die Studienreform seit Jahrzehnten und die Lehre ist aufgrund der Forschungsorientierung der Universitäten strukturell schlecht. Darin sind natürlich auch Fragen von Selbstverwaltung und Mitbestimmung enthalten, zum Beispiel wer an der Studienreform beteiligt ist und wie studentische Interessen vertreten werden. Dies ist eine klassische Demokratiefrage. Es wird aber argumentiert, dass mit der Einführung von Studiengebühren Studierende in den Kundenstatus versetzt werden und Professoren in den Status der Anbieter einer Lehre, die gut sein muss, damit Studierende diese auch »Nachfragen« und mit ihrer privaten Kostenbeteiligung das Fachbereichsbudget aufbessern. Das genuin politische Problem der Studienreform und der schlechten Lehre wird so durch einen ökonomischen Regulationsmechanismus gelöst. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass ein über Marktmechanismen gesteuertes Bildungssystem Fragen der politischen Verfassung nicht mehr berücksichtigt. Dies ist dann die unsichtbare Hand, die alles hinterm Rücken der Beteiligten löst. In diesem Sinn waren Studiengebühren in gewisser Weise immer ein vorgeschobenes Thema, um ganz andere Fragen und Lösungen zu transportieren, und um die Reformdebatte von der Thematik zu entfernen, über die sie eigentlich geführt werden müsste, nämlich Fragen der politischen Selbstverwaltung und der Strukturen.
Ist das Studienkontenmodell eine Alternative?
Es ist eigentlich nur eine etwas modernere Variante von Studiengebühren. Das Gemeinsame von Langzeitgebühren und Studienkonten besteht darin, dass der Anspruch auf öffentliche Bildung kontingentiert und administrativ auf ein gewisses unteres Limit verknappt wird. Das Kontenmodell unterscheidet sich vom Langzeitmodell dadurch, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ganz so primitiv ist, da es angeblich eine selbständigere und gleichzeitig modernere Verfügung über dieses Zeitbudget ermöglichen soll. Es passt sich insofern gut in Diskurse über »Selbstbestimmung« und dergleichen ein, wie sie ursprünglich von den Neuen Sozialen Bewegungen angestoßen wurden. Wenn man das Modell jedoch genauer betrachtet, ist auch dies nicht der Fall. In allen bekannten Überlegungen, beispielsweise in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen, wird der gesamte Steuerungsdruck dieses Modells auf ein möglichst kurzes Studium konzentriert. Dies gilt unter anderem für alle Bonuspunkte, die nur dann greifen, wenn man nicht etwa in 16 Semestern sondern in einem Zeitraum von zirka acht plus zwei Semestern sein Studienkonto verbraucht.
Besonders problematisch ist zudem, dass es ausdrücklich als vorbildliches Modell für die Finanzierung lebenslangen Lernens deklariert wird. Jürgen Zöllner, der rheinland-pfälzische Bildungsminister, betont diesen Aspekt immer wieder. Eingesparte Studienzeiten sollen für spätere Phasen beruflicher Weiterbildung genutzt werden können. Wenn es sich hierbei sozusagen um das letzte Wort zur politischen Regulierung und Finanzierung des Weiterbildungssektors handelt, sehe ich schwarz.
In letzter Zeit wurde in den Medien gemeldet, dass sich auch Gewerkschaften für das Studienkontenmodell ausgesprochen hätten, so zum Beispiel die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Als GEW-Mitglied räume ich ein, dass es in den Gewerkschaften problematische Tendenzen in der Studiengebührendebatte gibt, nicht nur in der GEW, sondern auch beim DGB oder bei ver.di. Wenn jedoch öffentlich gemeldet wird, die GEW sei für Studienkonten, dann ist dies schlicht nicht richtig. Es gibt kein einziges satzungsgemäß legitimiertes GEW-Gremium, das sich für Studienkonten ausgesprochen hat. Die Fachgruppen auf Bundes- und Landesebene können als Arbeitsausschüsse politische Resolutionen verfassen, aber keine bindenden Beschlüsse treffen. Die nordrhein-westfälische Fachgruppe »Hochschule und Forschung« hat sich ausdrücklich gegen Studienkonten ausgesprochen.
Es gibt jedoch den Versuch einzelner hoher Funktionäre von GEW, ver.di und DGB, das Studienkontenmodell als einen zukunftsweisenden Kompromiss darzustellen und damit auch als ihr eigenes Werk, mit dem sie Studiengebühren verhindert hätten. Aber insgesamt handelt es sich innerhalb der GEW um eine offene Entscheidungssituation.
Wie beurteilst Du die Perspektiven des studentischen Widerstandes gegen die in NRW geplante Einführung von Studiengebühren? Es handelt sich ja nach wie vor um eine offene Situation.
Wenn ich rein technokratisch argumentiere, erweist sich von Tag zu Tag mehr der volkswirtschaftliche Schwachsinn dieses Gesetzes. Die erhofften Mehreinnahmen des Finanzministers wird es nicht geben, falls sich eine ähnliche Entwicklung abzeichnet wie in Baden-Württemberg, nämlich ein Rückgang der Studierendenzahlen um zirka zehn Prozent. Einerseits werden Studierende in ein anderes Bundesland gehen - sie haben allerdings bald keine Schlupflöcher mehr -, andererseits werden sie ihr Studium abbrechen, da sie es sich schlicht nicht mehr leisten können. Es gibt in diesem Zusammenhang nur ganz wenige so genannte Park- oder Scheinstudenten. Überwiegend handelt es sich um Leute, die ihr Studium aus materiellen Gründen abbrechen.
Der absolute Rückgang der Studierendenzahlen wird sich wiederum in fehlenden Finanzen der Kommunen niederschlagen, wenn entsprechend die Wohnsitzmeldungen rückläufig sind. Es ist volkswirtschaftlich einfach ein Schwachsinn, Studienplätze für Studienabbrecher zu finanzieren. Der Verlust ist unter dem Strich größer als der Gewinn. Es sei denn, man wollte von Anfang an etwas anderes, zum Beispiel Studiengebühren als ein ideologisches Disziplinierungsmittel oder um Studierende zu Sündenböcken für eine defizitäre Hochschulreform machen. Da jedoch der Schwachsinn dieses Gesetzes auch in der etablierten Presse jeden Tag angesprochen wird, glaube ich auch von der Entwicklung der öffentlichen Meinung her nicht, dass die Sache endgültig entschieden ist.
Im Rahmen der studentischen Proteste wird wichtig sein, das Ganze nicht auf der Ebene isolierter studentischer Interessen zu belassen, sondern tatsächlich auch die politischen Grundfragen aufzuwerfen, die in dem Instrument Studiengebühren/Studienkonten enthalten sind, nämlich die Finanzierung des gesamten Bildungssystems, Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Fragen des politischen Verhältnisses zu anderen gesellschaftlichen Gruppen. Es ist wichtig, diese verbundenen Sachverhalte intensiv zu diskutieren und auch in bündnispolitischer Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Gerade an diesem Aspekt sind die studentischen Proteste im letzten Jahrzehnt gescheitert.
Das heißt?
Weitermachen auf höherem Niveau.