Ende September erschien das neue Buch des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Daniel Goldhagen, Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Eine anschließende Vortagsreise zur Rolle der ChristInnen und des Vatikans während der NS-Zeit führte den Autor am 13. Oktober auch nach Köln.
Vor Beginn der Lesung herrschte im Publikum überwiegend eine skeptische Erwartungshaltung. Der Veranstaltungsraum in der Buchhandlung Gonski war überfüllt, alle verfügbaren Stühle und Treppenstufen besetzt, doch schien die Atmosphäre nicht recht mit der noch aus der Erinnerung bekannten Geschichtskontroverse der Neunzigerjahre vergleichbar. Es fehlten beispielsweise bekannte Autoritäten aus der HistorikerInnenzunft wie Hans Mommsen, Christian Meier oder Frank Schirrmacher, die in der damaligen aufgeheizten Auseinandersetzung um Goldhagens erstes Buch Hitlers willige Vollstrecker auf Podiumsdiskussionen und in mehreren TV-Debatten den Thesen des heutigen Harvard-Professors widersprachen - einige mit dem Pathos eines Advokaten, der die auf der Anklagebank sitzenden »gewöhnlichen Deutschen« verteidigt.
Solche Umstände sind bezüglich des neuen Buchs allenfalls in den Kommentaren des Rheinischen Merkurs erkennbar, wo der »Startschuss zur antikatholischen Hetzjagd« befürchtet wird. Oder in einer vom Münchner Erzbistum erwirkten einstweiligen Verfügung, mit der der Verkauf des Buches aufgrund einer fehlerhaften Bildunterschrift untersagt wurde. Die Exemplare der Erstauflage sind aber bereits fast vergriffen oder wurden an der betreffenden Stelle geschwärzt. Somit scheint das Buch gemessen an seinen Verkaufszahlen ein Erfolg für den Siedler-Verlag zu werden, obwohl HistorikerInnen und RezensentInnen die Feuilletons der Zeitungen mit größtenteils ablehnenden Kritiken füllen.
Als Daniel Goldhagen bei Gonski auftritt, hat er schon einige Diskussionen hinter sich: Zwei Tage zuvor stritt er im Rahmen der »Berliner Lektionen« mit dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Hans Joachim Meyer, der sein Buch als »zutiefst unredlich und daher nicht einmal als Streitschrift akzeptabel« charakterisierte. Um solchen Einschätzungen im Vorfeld zu begegnen, beginnt Goldhagen mit einem Vortrag, in dem er seine Kernthesen und vor allem die Intention seiner Arbeit zusammenfasst.
Demnach seien bei der Betrachtung des Holocaust drei Aspekte zu klären: Wer tat was, wer trägt welche Schuld, und wie kann diese gesühnt werden? Die katholische Kirche und ihre Rolle während der Naziherrschaft dienten dabei als exemplarische Untersuchungsobjekte. Goldhagen verfolgt einen dreistufigen Erkenntnisprozeß, der nicht mit der bloßen Ermittlung und Registrierung historischer Vorgänge ende. Es bestehe die »obligation to judge« - werten und urteilen seien alltägliche und notwendige menschliche Handlungen. Um aber die ethische Dimensionen von Schuld und Sühne angemessen behandeln zu können, habe er versucht, anhand moralischer Kriterien - unter anderen solche, die von der katholischen Kirche selber vertreten werden - eine »Taxonomie von Schuld« zu erstellen.
Goldhagen beklagt, dass der deutsche Begriff »Wiedergutmachung« meist als Synonym für Geld verstanden werde. Materielle Reparation allein sei aber nicht akzeptabel, vielmehr müsse eine tiefergehende Restitution umgesetzt werden. Im Falle der Kirche sollte diese aus zwei konkreten Schritten bestehen. Zum einen müsse der Vatikan seine Archive aus der betreffenden Zeit öffnen. Wichtiger noch aber seien Maßnahmen, die eine Wiederkehr von Bedingungsfaktoren des nationalsozialistischen Massenmords unmöglich machten. Speziell die Kirche habe sich an der Verbreitung und Implementierung des Antisemitismus beteiligt, was aber bisher nicht angemessen eingestanden werde. Goldhagen fordert nun eine radikale Neuorientierung, auch, damit die Kirche ihre moralische Glaubwürdigkeit wiedererlangen könne.
Der Vortrag dauert knapp eine halbe Stunde, Goldhagen spricht schnell, aber mit eindringlicher Betonung. Die Darlegung seiner analytischen Ausgangsposition ist klar strukturiert, mit seiner Herangehensweise nimmt er eine scheinbar bewusst naive moralische Haltung ein. Er versucht nicht, bereits im Vorfeld Kritik zu antizipieren und seine Ergebnisse in Abhängigkeit vom zu erwartenden Widerstand zu formulieren. Ein Teil des Kölner Publikums spendet ihm dafür Applaus, andere verweigern demonstrativ jede Reaktion.
Die Beschränkung, nur seine allgemeineren Überlegungen zu Problematik und Operationalisierung der Schuldfrage vorzustellen, spiegelt aber auch Goldhagens Taktik in der anschließenden Fragerunde wider. Er weicht damit der Diskussion über die Darstellung der historischen Grundlagen seiner Thematik aus, die er im ersten Teil seines Buches behandelt. Dabei sprechen viele der von ihm zusammengetragenen Fakten für sich: Angehörige der katholischen Kirche wurden und waren auf unterschiedliche Arten in die Verfolgung der JüdInnen involviert, beispielsweise indem Taufregister zur Verfügung gestellt wurden, die den Nazis die systematische Klassifizierung der Bevölkerung nach ihren Rassegesetzen ermöglichten. Katholische Priester in der Slowakei und in Kroatien übernahmen sogar eine aktive Rolle bei Deportationen. Insgesamt haben Kirche und vor allem der Vatikan zu lange zu den NS-Verbrechen geschwiegen; die vereinzelte Kritik hätte sich aufgrund der propagierten universellen Prinzipien auch in der Vorkriegszeit nicht nur gegen die Verletzungen des Konkordats und damit auf die Repressionen gegen eigene Religionsangehörige richten müssen.
Jedoch sind Goldhagen bei der Interpretation der von ihm verwendeten Literatur Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen, die in den Besprechungen seines Buches den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit laut werden ließen. Für die beanstandete Bildlegende - ein mit SA-Männern abgebildeter kirchlicher Würdenträger wird fälschlicherweise als der Münchener Erzbischof Faulhaber identifiziert - ist der Siedler-Verlag verantwortlich zu machen. Allerdings arbeitet auch Goldhagen an zentraler Stelle mit Dokumenten, deren Inhalt durch Übersetzung und tendenziöse Rückübersetzungen verzerrt ist - namentlich mit einem Nuntiarbericht aus dem Jahr 1919, der von Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., verfasst worden sein soll. Unklar ist allerdings, ob diese Zuschreibung korrekt ist.
Aufgrund solcher Angriffspunkte gelingt es Goldhagen nicht, die Debatte in Köln auf die von ihm intendierte moralische Thematik zu lenken. Die ersten Fragen der ZuhörerInnen beziehen sich auf konkrete Details aus seinem Buch, zu deren Klärung der Rahmen der Veranstaltung denkbar ungeeignet ist. Im folgenden wird Goldhagen aber auch mit Diskussionsbeiträgen konfrontiert, die eher als sich selbst entlarvende Statements zu verstehen sind (»Herr Goldhagen, haben Sie vergessen, dass auch Paulus Angehöriger einer jüdischen Sekte war?«); teilweise richten sich einige Fragen demonstrativ nur ans Publikum (»Wo hat er recherchiert...?«). Dem Vorwurf, er provoziere Kirchenhetze und eine nivellierende Kollektivschuldthese, widerspricht Goldhagen energisch: »collective guilt« sei »nonsense«, ein verwertbarer Schuldbegriff könne immer nur individuell ausgerichtet sein, sei es etwa in Bezug auf die Kirche oder die US-Regierung.
Goldhagen beteuert, seine Untersuchung habe den Charakter eines moralischen Plädoyes. Seine KritikerInnen werfen ihm denunziatorisches Vorgehen vor. Insgesamt entwickelt sich die Diskussion unbefriedigend - ApologetInnen und KritikerInnen nutzen die Gelegenheit, sich gegenseitig auf ihre Positionen aufmerksam zu machen.
Es ist allerdings wahrscheinlich, dass die von Goldhagen angestoßene Kontroverse letztlich gar keine ist. Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich hauptsächlich auf das plumpe juristische Vorgehen des Münchner Erzbistums, das von den VerlegerInnen als kostenlose Werbung belächelt wird. Kritik an der hilflos-defensiven katholischen Kirche und ihrer Unzeitgemäßheit scheint zu einem medialen Allgemeinplatz geworden zu sein, abgekoppelt von tatsächlicher historischer Schuld. Zu eingefahren wirken die geäußerten Positionen zwischen moralischer Anklage einerseits und empörter Zurückweisung der Vorwürfe andererseits; zu eingeübt sind die jeweiligen Argumentationsstrategien, als dass Goldhagens Vorschläge, zum Beispiel die Kommentierung antisemitischer Passagen des Neuen Testamentes, ernsthaft aufgegriffen würden. Wichtige - aber keineswegs von Goldhagen zuerst entdeckte - Tatsachen wie etwa die jahrhundertelange Konditionierung der ChristInnen auf antisemitische Ressentiments durch kirchlichen Antijudaismus können so übergangen werden und folgenlos bleiben.