»Ich bin froh, dass ich dieses Gebäude zum ersten Mal von innen sehe«, sagt Josef Rychter, während seine Augen ruhelos durch die abgedunkelten Räume wandern. »Andernfalls wäre ich heute eventuell nicht hier.« Gemeinsam mit vier anderen ehemaligen Zwangsarbeiterinnen steht der heute 73-Jährige im Eingangsbereich des ehemaligen Verwaltungsgebäudes der Firma Aero-Stahl in Köln-Porz. »Viele, die dieses Haus betreten mussten, haben wir nicht wieder gesehen«, stimmt ihm Maria Dembowska zu. Sie seien wahrscheinlich, vermutet sie, von der Firmenleitung an die Gestapo übergeben worden.
Seit zwei Tagen befindet sich auf Einladung der Stadt eine Gruppe von insgesamt 17 ehemaligen ZwangsarbeiterInnen aus Polen und der Ukraine in Köln. Auf der Tagesordnung steht heute der für sie wahrscheinlich schwierigste Teil des ganzen Programms: Der Besuch der verschiedenen Firmen, für die sie während des Zweiten Weltkrieges arbeiten mussten. Teilweise, wie auch im Fall Aero-Stahl, gibt es die Firmen nicht mehr. Das ehemalige Betriebsgelände in Porz gehört heute der Bundeswehr. Noch stehen einige der alten Fabrikhallen und das Verwaltungsgebäude. Sie werden allerdings noch im Laufe dieses Jahres abgerissen.
Ohne die Fabrikhallen würde der Gang über das Aero-Stahl-Firmengelände seine Rolle als zentraler Bestandteil des Besuchsprogramms verlieren. Gerade hier werden bei den ehemaligen Aero-Stahl-ArbeiterInnen Erinnerungen an ihren Zwangsaufenthalt in Deutschland wach. »Im September kommt ein weiterer ehemaliger Zwangsarbeiter von Aero-Stahl nach Köln. Er wird der letzte Gast sein, der diese Hallen sieht«, bedauert Christian Welcke von der Projektgruppe Messelager den bevorstehenden Abriss.
Die Projektgruppe, ein loser Zusammenschluss von Einzelpersonen, ist für die inhaltliche Ausgestaltung des Besuchsprogramms zuständig. Die Stadt leistet den organisatorischen Rahmen und übernimmt die Finanzierung. Ob dies allerdings auch weiterhin der Fall sein wird, ist ungewiss; das Besuchsprogramm könnte dem städtischen Rotstift zum Opfer fallen, der momentan in fast allen Bereichen wütet. So gilt die ursprünglich bis 2005 zugesagte Finanzierung nur noch für das Programm im September dieses Jahres. Und auch das war eigentlich schon den Sparmaßnahmen der Stadt zum Opfer gefallen. »Erst das Argument, dass die Gäste für September bereits eingeladen sind und eine Ausladung unhöflich ist, hat die Stadt zum Einlenken gebracht«, zeigt sich Welcke verbittert. Den Zusagen von VertreterInnen der Stadt über September hinaus, wie er sie im Verlauf dieser Woche bei offiziellen Anlässen mehrmals zu hören bekommt, will er jedenfalls keinen Glauben schenken. Die Projektgruppe Messelager hat daher einen offenen Brief an Oberbürgermeister Fritz Schramma geschrieben, in dem sie die Stadt zur ursprünglich vorgesehenen Weiterfinanzierung auffordern.
»Eigentlich hat unsere Gruppe 1986 in Köln die Diskussion um das Thema Zwangsarbeit angestoßen«, gibt Welcke zu bedenken. Er ist das Urgestein der Projektgruppe; von Anfang an ist er dabei. Ohne nachdenken zu müssen, kann er die Vorgeschichte und die Anfänge des Projekts abspulen: Wie sich Mitte der Achtzigerjahre Einzelpersonen zusammenschlossen, um sich mit dem Thema Zwangsarbeit zu befassen, das in dieser Zeit noch gar kein Thema war. Wie 1989 das erste Besuchsprogramm stattfand - noch ohne städtische Unterstützung, die erst 1990 einsetzte. Und wie Mitglieder der Projektgruppe das EL-DE-Haus, die ehemalige Kölner Gestapo-Zentrale, besetzten. »Das NS-Dokumentationszentrum im EL-DE-Haus gab es damals ja noch nicht«, berichtet Welcke lachend. Erst diese Aktion war der Grundstein für das EL-DE-Haus als Erinnerungsstätte.
Da die Firma Aero-Stahl nach dem Krieg aufgelöst wurde und zudem die Betriebsunterlagen verbrannt sind, beruht das Wissen über Aero-Stahl zu weiten Teilen auf Aussagen von ehemaligen Gästen des Besuchsprogramms. Aero-Stahl stellte in Porz seit 1941 Einspritzdüsen für die Flugzeugindustrie her und galt somit als »kriegswichtiger Betrieb«. Im Herbst 1943 wurden Teile der Produktion aufgrund der zunehmenden alliierten Bombenangriffe nach Andrychow in Polen ausgelagert. Im Sommer 1944 erfolgte jedoch bedingt durch das Näherrücken der Roten Armee die Zurückverlegung nach Porz. Allerdings nur für wenige Monate, ehe der »kriegswichtige Betrieb« im Oktober 1944 erneut den alliierten Luftangriffen weichen musste. Um die Produktion sicherzustellen, wurde sie komplett in ein Bergwerk verlegt, in dem zuvor Schamottgestein für die Ofenherstellung abgebaut worden war. Dieses befand sich in der Nähe von Königswinter. Im März 1945 schließlich wurde Königswinter von US-amerikanischen Truppen befreit.
Zu diesem Zeitpunkt, erzählen die Frauen in der Besuchsgruppe, hätten sie sich bereits wieder in Polen befunden: Im ausbrechenden Chaos am Ende des Krieges sei ihnen im Frühjahr 1945 die Flucht aus Königswinter gelungen. Eine besondere Rolle spielte hierbei ein Deutscher namens Erich. »Er hat mir eine Zugfahrkarte gegeben«, schildert Krystina Woitaczweska im Verlauf eines Einzelinterviews den Beginn ihrer Flucht. Diese Interviews werden mit allen TeilnehmerInnen des Besuchsprogramms geführt. Sie dauern zirka neunzig Minuten und werden vom NS-Dokumentationszentrum aufgezeichnet. Krystina Woitaczweska ist ihre Nervosität nicht anzumerken; trotz der auf sie gerichteten Videokamera. Am Ende des Gesprächs wird sie dann auch sagen, dass sich ihre Anspannung zu Beginn des Interviews sehr schnell gelegt hat.
Auch an den weiteren Verlauf ihrer Flucht erinnert sich Krystina Woitaczweska genau. »Später hat mich Erich im Lager abgeholt und mich und meine Freundin mit dem Motorrad zum Bahnhof gebracht.« Jedoch nicht zum nächstgelegenen Bahnhof - aus Angst, dass dort zuerst nach ihnen gesucht werde. In kleinen Etappen seien sie dann mit dem Zug weiter in Richtung Polen gefahren: Teilweise mit Soldaten, die auf dem Weg an die Ostfront waren. Als sie nach mehreren Tagen letztendlich in Polen ankamen, war ihre Flucht aber noch nicht zu Ende. »Es war uns klar, dass man auch in Polen nach uns suchen würde. Daher haben wir uns versteckt.« Mit einem Trick legte beispielsweise Genoveva Melzyk, die gleichfalls geflohen war, eine falsche Fährte. »Meine Eltern haben einem Bekannten, der nach Berlin fuhr, einen Brief mitgegeben, der angeblich von mir stammte«, erzählt sie: »Er hat den Brief von Berlin aus an meine Eltern geschickt und diese zeigten ihn dann den Deutschen, die nach mir fragten.« Beide Frauen bedauern, dass sie von Erich außer dem Vornamen nicht viel wissen. Sie hätten ihn gerne wieder getroffen und ihm für seine Hilfe gedankt.
Krystina Woitaczweska geht davon aus, dass Erich für Aero-Stahl tätig war. Sie hat ihn, ist sie sich sicher, das erste Mal bei der Verlagerung der Produktion nach Andrychow gesehen. In diesem Zusammenhang hat sie auch das erste Mal den Namen Aero-Stahl gehört. Das Arbeitsamt, bei dem sie sich regelmäßig melden musste, überwies sie an die Firma, nachdem sie bereits zuvor für eine andere Firma Zwangsarbeit geleistet hatte. Nach Deutschland kam sie, wie auch die anderen Gäste des Besuchsprogramms, bei der Rückverlegung der Firma im Sommer 1944. Sie war damals 16 Jahre alt. Auch die anderen Frauen, die in Kleingruppen mit BetreuerIn und DolmetscherIn über das Gelände in Porz gehen, waren ungefähr in diesem Alter. Josef Rychter ist der Jüngste in der Gruppe. Er wurde 1930 geboren, kam also mit 14 Jahren nach Deutschland.
Die meisten ArbeiterInnen stammten aus Osteuropa - aus Polen, der Ukraine, Russland und Tschechien. Aber auch aus Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Zudem berichten alle Gäste von einer Gruppe italienischer Kriegsgefangener. Als Kriegsgefangene seien sie nach dem Übertritt Italiens auf die Seite der Alliierten am schlechtesten behandelt worden und hätten die schwerste Arbeit erledigen müssen.
Bei den anderen Nationalitäten haben die deutschen Aufseher bei Aero-Stahl gleichfalls eine strenge Hierarchisierung vorgenommen - unter rassistischen Gesichtspunkten. So hätten beispielsweise die ArbeiterInnen aus Westeuropa das Mittagessen zuerst bekommen, erklärt Maria Dembowska. Erst danach hätten dann nach Herkunft abgestuft die ArbeiterInnen aus Osteuropa den Teller Suppe mit Gemüseeinlage in Empfang nehmen können. Fleisch habe es nie gegeben, fügt sie hinzu. Jeden Abend erhielten die ArbeiterInnen jeweils eine Scheibe Brot mit Marmelade für das Abendessen und das Frühstück: Für eine Zwölf-Stunden-Schicht, die von Montag bis Samstag entweder von 7 Uhr bis 19 Uhr oder von 19 Uhr bis 7 Uhr dauerte. Zudem musste sonntags jede der beiden Schichten abwechselnd ebenfalls zwölf Stunden arbeiten. Somit hatten die ArbeiterInnen alle zwei Wochen nur einen freien Tag. »Wir waren immer so hungrig, dass wir unser Frühstück bereits am Abend aßen«, sagt Maria Dembowska. »Wir hätten es ja während der Nacht verlieren können, zum Beispiel bei einem Bombenangriff.«
Von dem Barackenlager, in dem die ZwangsarbeiterInnen schliefen, sind heute nur noch die Fundamente zu sehen. Unklar ist, wieviele es damals waren. Die Angaben der Gäste schwanken zwischen acht und zwölf. In jeder Baracke gab es mehrere Einheiten, in denen in der Regel vier Personen schliefen. Als sanitäre Einrichtung stand lediglich eine Schüssel mit Wasser zur Verfügung. Einig sind sich alle, dass das Lager zwar bewacht wurde, aber nicht umzäunt war. »Wo hätten wir auch hingehen sollen?«, fragen sie einhellig. Direkt neben dem Lager befand sich der Militärflughafen.
Auch hätten sie unter den PorzerInnen niemanden gekannt, der/die bereit gewesen wäre, ihnen bei einer Flucht zu helfen. »Sie hatten Angst, bestraft zu werden«, erklärt Krystina Woitaczweska. Kontakte zu PorzerInnen gab es aber durchaus. Zum Beispiel zum Pfarrer, wenn die ZwangsarbeiterInnen an ihren freien Sonntagen die Kirche besuchten. Oder auf der Strecke zwischen Lager und Firmengelände, die sie unter Aufsicht jeden Tag zweimal zu Fuß zurücklegen mussten. Ungefähr eine halbe Stunde waren sie jeden Morgen und jeden Abend unterwegs - mitten durch die Stadt. »Es hing immer von den Aufsehern ab, ob wir in eines der Geschäfte gehen durften oder nicht«, erklärt Krystina Woitaczweska. Und: »Teilweise bekamen wir von den Porzern eine Kleinigkeit zu essen zugesteckt.«
Immer wieder erzählen die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen in dieser Woche die gleichen Geschichte. Immer wieder geben sie die gleichen Antworten. Eher unerwartete Fragen werden ihnen dann jedoch beim Schulbesuch an der Willy-Brandt-Gesamtschule in Köln-Höhenhaus gestellt, einem weiteren zentralen Termin der Besuchswoche. »Haben sie Hitler persönlich gesehen?«, will eine der SchülerInnen aus den Jahrgangsstufen Neun und Zehn wissen. Nach kurzem Nachdenken antwortet Maria Dembowska mit der Gegenfrage, ob ihre Eltern denn Hitler gesehen hätten. Ein leises »Nein« kommt zurück.
Zirka zwanzig SchülerInnen sind an diesem Morgen in dem Klassenzimmer versammelt, um an einer anderen Art von Geschichtsunterricht teilzunehmen als üblich. Sie hören die Schilderungen zweier ZeitzeugInnen, die ungefähr in ihrem Alter von ihren Eltern getrennt und aus ihrer Heimat nach Deutschland deportiert wurden, um hier Zwangsarbeit zu leisten. Bereits zu Beginn hat man den Eindruck, dass einige SchülerInnen nur hier sitzen, weil sie müssen. Dieses Gefühl ändert sich auch im weiteren Verlauf des Gespräches nicht. Dass Menschen über Monate hinweg ständig Angst hatten, dass sie ständig Hunger litten, dass sie immer fürchteten, bei Fehlern während der Arbeit bestraft zu werden und dass sie immerzu über Fluchtmöglichkeiten nachdachten, scheint sie nicht zu berühren. Nur wenige SchülerInnen ergreifen dann auch die Gelegenheit, Fragen an die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen zu stellen - zu wenige.
Eventuell realisieren sie auch nicht, welche Überwindung der Besuch in Köln auch noch sechzig Jahre später kostet. Viele ehemalige ZwangsarbeiterInnen, die nach Köln eingeladen wurden, haben laut Christian Welcke abgesagt. Sie wollen nicht an diese für sie schreckliche Zeit erinnert werden.
Im NS-Dokumentationszentrum im EL-DE-Haus ist bis zum 9. November 2003 die Ausstellung Bilder einer fremden Stadt. Zwangsarbeit in Köln 1939-1945 zu sehen. Öffnungszeiten und weitere Informationen sind im Netz unter http://www.museenkoeln.de/ns-dok/fs_start.html zu finden. Der offene Brief der Projektgruppe Messelager für die Weiterführung des Besuchsprogramms liegt im SprecherInnenrat der Philosophischen Fakultät in der Universitätsstraße 16 (1. Etage) aus.