Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen. Für die philtrat sprachen Volker Elste und Patrick Hagen mit ihm über europäische Militärpolitik, die Uneinigkeit Europas und zukünftige Kriege.
Der Vierergipfel der Staatschefs von Belgien, Frankreich, Deutschland und Luxemburg am 19. April in Brüssel wurde als »Pralinengipfel« verspottet. Welche Bedeutung muss diesem Gipfel und seinen Beschlüssen zugemessen werden?
Der Gipfel hatte im Grunde zwei Bedeutungen. Direkt nach Ende des Irak-Krieges einen solchen Gipfel durchzuführen war ein ganz klares Signal. Einerseits gegenüber den USA und Großbritannien und andererseits gegenüber den ost- und mitteleuropäischen Staaten, die den Krieg gegen den Irak unterstützt haben. Symbolisch sollte verdeutlicht werden, dass die Entwicklung der militärischen Komponente innerhalb der EU vorangetrieben werden soll.
Der zweite Aspekt des Gipfels bestand in den tatsächlich getroffenen Beschlüssen. Es wurde Substanzielles beschlossen, um die militärische Komponente in der EU auszubauen. So soll es einen eigenständigen militärischen Stab der Europäischen Union geben. Damit könnten Militärinterventionen oder Stationierungseinsätze allein über die EU durchgeführt werden, ohne Rückgriff auf NATO-Equipment. Das ist zwar noch nicht vollständig ausgereift, aber die Intention ist eindeutig. So spricht Jacques Chirac bereits vom Versuch, eine Gegenhegemonialmacht aufzubauen.
Dass der Gipfel hauptsächlich von den beiden so genannten Kriegsgegnerstaaten betrieben wurde, ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die Grundintention bei den Staaten, die den Krieg geführt haben und bei denjenigen, die nicht direkt beteiligt waren, die gleiche ist.
Wie siehst Du in diesem Zusammenhang die europäische Uneinigkeit in dieser Frage? Großbritannien und einige der ost- und mitteleuropäischen Staaten, haben den Krieg gegen Irak ja unterstützt.
Die Uneinigkeit in der Europäischen Union bezieht sich nur auf die Frage, wann wo Krieg geführt werden soll, nicht ob. Im Fall Irak konnten vor allem Frankreich, aber auch Deutschland mit dem vorherigen Regime besser leben. Frankreich hatte ja ähnlich wie Russland Ölverträge mit dem Regime von Saddam Hussein abgeschlossen, die jetzt nicht mehr greifen, weil US-amerikanische und britische Firmen den Zugriff haben.
Das augenblickliche Vorgehen Frankreichs und Deutschlands erinnert an das alte Kerneuropa-Konzept von Schäuble und Lamers. Hat die rotgrüne Regierung dieses Konzept übernommen?
Das Schäuble-Lamers-Papier war ein sehr grobes Konzept; Joschka Fischer und der französische Außenminister Dominique de Villepin haben es nun verfeinert und konkretisiert. Fischer redet gerne von einem Gravitationszentrum innerhalb der Europäischen Union. Das ist natürlich nichts anderes als das Kerneuropa-Konzept. Interessant ist, dass dieses Konzept, das damals ja allgemein formuliert wurde, jetzt auf den militärischen Bereich konkretisiert wird. Fischer und de Villepin haben einen Vorschlag in den EU-Konvent eingebracht, der es auch Koalitionen innerhalb der EU ermöglichen soll, Kriege zu führen. Künftig sollen also auch Fraktionen innerhalb der Europäischen Union auf die militärische Struktur der EU zurückgreifen können. So könnte es beispielsweise Militäreinsätze unter deutsch-französischer Führung mit belgischer und luxemburgischer Beteiligung geben. Aber eben auch umgekehrt unter britischer, spanischer und italienischer Führung. Das ist natürlich eine sehr gefährliche Entwicklung.
Dieses »neue Kerneuropa-Konzept« wird ganz bewusst in einen Kontext gestellt mit einem starken Europa, wie Schröder es nennt. Dabei geht es im Grunde genommen um ein militarisiertes Europa. Dies beinhaltet auch, dass in den Sozialbereichen der verschiedenen europäischen Staaten gekürzt wird. Schröder hat diesen Zusammenhang in einer Rede auf der Hannovermesse auch ganz direkt hergestellt. Sinngemäß hat er dort gesagt, dass, wenn wir ein starkes selbstbewusstes Europa wollen, auch die Agenda 2010 mit ihrem Sozialabbau umgesetzt werden muss.
Die Tatsache, dass die Bundesregierung gegen den Irakkrieg war, hat jedenfalls nichts damit zu tun, dass sie Krieg als Mittel der Politik oder das Präventivkriegkonzept ablehnen würde.
Inwiefern spielt das eine Rolle für die Diskussion um eine Europäische Sicherheitsdoktrin und für die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien?
Interessant ist, dass auf dem Treffen der europäischen Verteidigungsminister, das nach dem »Pralinengipfel« stattgefunden hat, eine solche europäische Militärstrategie in Auftrag gegeben wurde. Meine Befürchtung ist, dass in dieser europäischen Militärstrategie auch das Präventivkriegskonzept auftauchen wird. Dafür gibt es eine Reihe von Indizien. So sind in den verteidigungspolitischen Richtlinien, die die Bundeswehr betreffen, eine ganze Reihe relativ grundlegender Änderungen aufgetaucht. So soll der Bundeswehr in Zukunft ermöglicht werden, »präventiv« Kriege zu führen. Das ist natürlich ein deutlicher Bruch mit sämtlichen bisherigen Traditionen, und bedeutet, dass man die Bush-Doktrin auf deutsche Weise umsetzt. In den verteidigungspolitischen Richtlinien steht auch, dass die Bundeswehr in Zukunft zur Terrorismusbekämpfung weltweit eingesetzt werden soll, und dass sie für die Landesverteidigung eigentlich nicht mehr benötigt wird. Sogar die konservative Welt wundert sich, warum diese grundlegende Änderung eigentlich keinen Aufschrei in der Gesellschaft erzeugt. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass es eine rot-grüne Regierung ist, die einen solchen Politikwechsel einleitet.
Siehst Du eine realistische Aussicht für das Funktionieren einer selbstständigen europäischen Verteidigungsunion und wie würdest Du in diesem Zusammenhang die Zukunft der NATO einschätzen?
Ich befürchte, dass die Herausbildung der militärischen Komponente leider sehr realistisch ist. Die Europäische Union wird sich in den nächsten Jahren zu einer Wirtschafts- und Militärmacht entwickeln. Also zu einem Januskopf, bei dem sich die Interessen der verschiedenen Staaten manchmal widersprechen können, sich die Staaten aber im Kern einig sind und ihre Interessen sowohl wirtschaftlich wie auch militärisch durchsetzen werden. Es wird innerhalb der Europäischen Union den Versuch geben, einzelnen Staatenkoalitionen die Möglichkeit zu geben, die EU als Rahmen für Interventionen zu nutzen. Damit wäre man um das Problem herumgekommen, die neu geschaffenen Fähigkeiten bei Uneinigkeiten gar nicht nutzen zu können.
Die NATO schafft gerade zeitgleich mit der EU eine eigene Truppe, die so genannte Nato Response Force. Peter Struck hat bereits Einheiten der Bundeswehr für die EU-Interventionstruppe und die Nato Response Force benannt. Darin liegt auch ein möglicher Konflikt: es stellt sich nämlich die Frage, wer Vorrang hätte, wenn Anforderungen von beiden Seiten kämen. Zudem wird die NATO ähnlich wie die EU im Jahre 2004 eine große Erweiterungswelle erleben.
Der Umgang mit diesen Institutionen wird insgesamt beliebiger. Wenn man sie nicht brauchen kann, nutzt man andere Konstellationen, wie im Irak-Krieg. Insofern denke ich, hat die NATO durchaus an Bedeutung verloren, ist aber weiterhin verfügbar. Auch in der NATO wird Stück für Stück das Präventivkriegkonzept eingeführt werden. Dann gibt es verschiedene Institutionen, innerhalb derer »präventiv« Kriege geführt werden können.