Der blinde Mörder

Von Agnes Hammer

Margaret Atwoods Roman Der blinde Mörder ist aus verschiedenen Zeitebenen montiert. Die Erzählperspektive wechselt zwischen einer Erzählerin, Zeitungsstimmen und Passagen aus einem Roman, der innerhalb des Romans erscheint - und wegen seiner freizügigen Passagen, die noch dazu von einer Frau geschrieben wurden, einen Skandal auslöst. Teile spielen in der Gegenwart, in der eine alte Frau Klarheit über den Selbstmord ihrer Schwester zu gewinnen versucht. Andere Teile spielen im Toronto der Zwanziger- und Dreißigerjahre.

Die beiden Schwestern Iris und Laura Chase wachsen behütet als Erbinnen eines Knopf-Fabrikanten auf. Ihre Kontakte zur Außenwelt sind minimal. Auf dem Sommerfest für die ArbeiterInnen der Fabrik lernen die beiden den linken Agitator Alex Thomas kennen. Am Abend des Sommerfestes brennt die Fabrik und die beiden Mädchen verstecken Thomas, den gesuchten Brandstifter, auf dem Dachboden. Beide beginnen eine romantische Schwärmerei für ihn. Diese Liebe wird das Leben von beiden bestimmen.

Iris heiratet einen älteren Fabrikanten, um ihren verschuldeten Vater und ihre Schwester zu retten, und führt ein äußerlich weitgehend fremdbestimmtes Leben. Lauras Schwärmerei für sozialistische Ideale führt sie in die Suppenküchen in Toronto und Umgebung. »Zehn Tage nach Kriegsende lenkte meine Schwester Laura ein Auto von einer Brücke«, so beginnt die vierundachtzigjährige Iris den Rückblick auf ihr Leben.

Den Inhalt des Romans lässt sich kaum nacherzählen, ohne zu viel zu verraten. In seiner komplexen Struktur erinnert er an Vexierbilder, die je nachdem, wie sie angeschaut werden, ein neues, verblüffendes Bild ergeben. Die Zeitungsberichte, der Roman im Roman - der übrigens selbst noch einen weiteren Roman enthält, dem auch der Titel entnommen ist - und die Notizen einer alten Frau geben nach jedem Kapitel stets einen ganz neuen Sinn.

In diesem Buch geht es um Rebellion und Widerstand gegen das Establishment und um die beiläufige, fast unbeabsichtigte Brutalität, mit der die gesellschaftlichen Umstände das Leben von Einzelnen bestimmen. Iris‘ Widerstand ist zunächst fast unmerklich, wie ein Ungeheuer unter einer spiegelglatten Eisfläche. Aber - um diese Metapher sterben zu lassen - Iris ist ein liebenswertes Ungeheuer, das man gerne in die Arme nehmen würde.

Der Stil von Atwood, die durch das leicht plaudernde Erzählen von Garderobe und Wetter, von Hauptspeisen und der Art, wie Thomas eine Zigarette raucht, genug sagt, um Stimmung und Spannung zu erzeugen, geht in Der blinde Mörder weit über die ihrer vorigen Romane Katzenauge oder Räuberbraut hinaus. Der blinde Mörder nimmt gefangen, von der ersten bis zur letzten Seite. Also nicht anfangen zu lesen, wenn in den nächsten Tagen irgendein wichtiger Termin ansteht. Denn das Buch ist fast siebenhundert eng bedruckte Seiten lang.

Margaret Atwood: Der blinde Mörder, Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2002, 13,90 Euro.