Aufstand der Vernunft: Marxismus und Naturwissenschaft

Von Karl Grabke

Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Produktivkräfte hat im 19. Jahrhundert zu einer rasanten Entwicklung der Technik und der Naturwissenschaften geführt. Karl Marx und Friedrich Engels schenkten dem Fortschritt und den Errungenschaften dieser Bereiche große Aufmerksamkeit. In Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und in Anknüpfung an Hegel bemühte sich vor allem der spätere Engels um eine allgemeine Philosophie der Wissenschaften in einer »materialistischen Dialektik«. Er nannte als hervorragendste Meilensteine des Triumphzuges der Naturwissenschaften drei große Entdeckungen: die der organischen Zelle, des Gesetzes von der Erhaltung und Umwandlung der Energie und der biologischen Entwicklungstheorie durch Darwin. Über das Hauptwerk von Charles Darwin, Der Ursprung der Arten (1859), vermerkte auch Marx: »Obgleich grob englisch entwickelt, ist dies das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält.«

Die Frage nach der Aktualität der philosophischen Arbeiten Friedrich Engels' markiert den Ausgangspunkt des 1995 erstmals im englischen Original erschienenen Buches der britischen Trotzkisten Alan Woods und Ted Grant Aufstand der Vernunft. In den unter dem Titel Dialektik der Natur herausgegebenen Manuskripten stützte Engels sich auf die fortgeschrittensten wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit, um zu zeigen, »dass es in der Natur in letzter Instanz dialektisch […] hergeht«. Die Autoren des vorliegenden Buches sind überzeugt, dass auch die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts einen schlagenden Beweis dafür liefern.

Aufstand der Vernunft soll daher ein Versuch sein, die grundlegenden Ideen marxistischer Philosophie zu erklären und deren Verhältnis zu den Positionen moderner Wissenschaft und Philosophie darzustellen. Im dialektischen Materialismus sehen Woods und Grant die grundlegende Methode des Marxismus, deren Anwendung auf die Entwicklung der Gesellschaft den historischen Materialismus und auf die Ökonomie die Marxsche Arbeitswerttheorie hervorgebracht hätte. Die Darstellung dieser Bereiche soll weiteren Publikationen vorbehalten bleiben.

Die Stärken und Schwächen von Aufstand der Vernunft lassen sich auf das aktuell-politische Interesse zurückführen, das dieser Arbeit zugrunde liegt: die Kritik reaktionärer Ideologien in den Naturwissenschaften und der sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Forschung. Beispielsweise wenn in der Genetik (vorgeblich) wissenschaftliche Theorien dazu gebraucht werden, um zu »beweisen«, dass Kriminalität von »kriminellen Genen« und nicht vom sozialen Umfeld abhängig sei; dass bestimmte Minderheiten nicht aufgrund von Diskriminierung, sondern wegen ihres genetischen Aufbaus benachteiligt wären - ähnlich wird auch die untergeordnete Stellung von Frauen gerechtfertigt. Im Bereich der theoretischen Physik und der Kosmologie werden Modelle der »Urknalltheorie« benutzt, um die Existenz eines Schöpfers zu rechtfertigen. In der ideologiekritischen Untersuchung solcher Theorien, die das ausdrückliche oder unausdrückliche Einbezogensein wissenschaftlicher Konzeptionen in einen umfassenden theoretisch-praktischen Wirkungszusammenhang überprüft, liegt die Stärke des Buches.

In ihrem Anspruch die Philosophie des Marxismus darzustellen, und damit die Methode des dialektischen Materialismus, die für das Verständnis des Marxismus unerlässlich sei, reiht sich die Arbeit von Grant und Woods in die Fülle von Literatur ein, die bis heute nur sehr wenig zur Klärung der vielberufenen dialektischen Methode beigetragen hat. Die Verfasser gehen dabei unkritisch über Probleme der Aufarbeitung der fragmentarisch gebliebenen Gedanken der »Klassiker« hinweg und unterstellen eine verfügbare, (mehr oder weniger) systematische Philosophie des Marxismus. Darüber hinaus wird das damalige Verständnis der Wissenschaften völlig ahistorisch adaptiert.

Andererseits beziehen sich die Autoren teilweise auf völlig antiquierte Urteile über Bereiche der Wissenschaft, denen gegenüber die Dialektik als tiefer gehende, die Realität vollständiger erfassende Methode präsentiert werden soll. So meinen Grant und Woods, die Mathematik habe es nur mit quantitativen Verhältnissen zu tun.

Aufstand der Vernunft enthält keine systematische und kritische Aufarbeitung dessen, was als marxistische Philosophie gelten könnte. Als kritische Bestandsaufnahme von Entwicklungen in den modernen Naturwissenschaften liefert die Arbeit aber einen leicht lesbaren Überblick, dessen Stärke in seiner ideologie- und gesellschaftskritischen Funktion mit einem marxistischen Anspruch liegt.

Alan Woods, Ted Grant: Aufstand der Vernunft. Marxistische Philosophie und moderne Wissenschaft, Promedia, Wien 2002, 42,90 Euro.