Sie kamen mit Pferd und unter gehörnten Gallierhelmen. Mit ihren historischen Kostümen und beritten stellten die streikenden ArchäologInnen die Publikumsattraktion mehrerer Pariser Demonstrationen im Mai und Juni dieses Jahres dar. Mit ihrem Ausstand protestierten sie wie viele andere Berufsgruppen gegen die antisoziale Reform der Rentensysteme.
Die so genannte Rentenreform besteht im Kern darin, dass die obligatorischen Beitragsjahre für den Anspruch auf die volle gesetzliche Rente für alle Beschäftigten - in der Privatwirtschaft, wie im Öffentlichen Dienst - auf 42 Jahre angehoben werden sollen. Für die Beschäftigten in der Privatwirtschaft wurde die Schwelle bereits 1993 auf 40 Jahre angehoben.
Angesichts der heutzutage allgemein verlängerten Schul-, Studier- und Ausbildungszeiten, aber auch angesichts der von vielen Beschäftigten durchlebten Perioden von Erwerbslosigkeit und prekärer Beschäftigung stellt diese Zahl freilich eine Illusion dar: Schon heute haben beim Erreichen des »offiziellen« Renteneintrittsalters - bisher mit 60 und künftig mit 65 Jahren - nur noch 45 Prozent der Männer und 42 Prozent der Frauen überhaupt einen Job. Die übrigen befinden sich bereits im Vorruhestand, in Frührente oder auch in der Erwerbslosigkeit. Denn die Privatwirtschaft schickt oft systematisch die über 55-Jährigen nach Hause.
Daher wird sich mit der Reform auch nicht die Länge des Erwerbslebens verändern, wohl aber wird die Höhe der Pensionen sinken: Frauen mit Brüchen im Erwerbsleben werden dabei besonders benachteiligt, auch wenn Kindererziehungszeiten in gewissen Grenzen angerechnet werden können. Nach gewerkschaftlichen Berechnungen werden die Renten durchschnittlich um 25 bis 30 Prozent sinken, da die Regierung zugleich die garantierte Rentenhöhe absenken will. Diese beträgt derzeit im Schnitt 78 Prozent des letzten Gehalts, angestrebt wird ein Wert von 67 Prozent. Das Ganze hat System und entspricht der wirtschaftsliberalen Philosophie: So viele soziale »Risiken« wie möglich auf das Individuum abwälzen. Vor Armut im Alter soll künftig private Absicherung schützen - durch einen betrieblichen Sparfonds oder einen börsennotierten Rentenfonds.
Gegen diese Maßnahmen hat sich nun eine breitgefächerte soziale Bewegung aus verschiedenen Berufsgruppen gebildet. Diese haben neben ihrem Widerstand gegen die Rentenreform auch eigene Anliegen. Die ArchäologInnen wehren sich beispielsweise dagegen, dass unter dem Druck der Industrielobby die Bauvorschriften gelockert werden, die die Rücksichtnahme auf mögliche historische Fundstätten vorschreiben. Gleichzeitig werden sie Opfer der allgemeinen Sparpolitik im Öffentlichen Dienst - achthundert von ihnen wurden jüngst entlassen. Aber nicht nur Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes beteiligten sich an den Protesten. Auch Abordnungen aus dem Chemiekonzern Aventis, aus den Automobilfirmen Renault und Peugeot, aus Banken und Versicherungen, den Druckereien führender Tageszeitungen und anderen Teilen der Privatwirtschaft nahmen an den Protestzügen teil.
Wie jede länger andauernde, landesweite soziale Bewegung hatte auch dieser Protestfrühling eine »Lokomotive«. Bei den Streiks 1995 waren das die EisenbahnerInnen und die Beschäftigten der Pariser Métro. Doch die wurden in diesem Jahr von der Regierung geschickt gegen die übrigen Beschäftigten ausgespielt. Die Bahn- und Métro-Beschäftigten verfügen über eine eigene Rentenkasse; man garantierte ihnen, diese bis 2004 bzw. bis 2008 nicht anzutasten. Das wurde zwar, zumindest im Falle der EisenbahnerInnen, eher als Androhung künftigen Unheils denn als Versprechen aufgefasst. Dennoch fiel die Mobilisierung der TransportarbeiterInnen insgesamt schwach aus.
Als »Lokomotive« der Bewegung wirkten den größten Teil des Frühjahrs hindurch die LehrerInnen. Bereits seit dem 17. bzw. 27. März befanden sich die ersten Schulen im Raum Bordeaux und in den nördlichen Pariser Trabantenstädten im Streik, der bis Mitte Juni, kurz vor Ferienbeginn, andauerte. Ihr Protest richtete sich zunächst hauptsächlich gegen die Misere im Bildungswesen und die Dezentralisierung des Bildungssystems, die die bestehenden Ungleichheiten zwischen armen und reichen Regionen noch zu verschärfen droht - aber auch gegen die Rentenreform. Den gesamten Frühling hindurch bildeten die LehrerInnen das Rückgrat der sozialen Bewegung. Bei den Demonstrationen in Paris stellten sie zwischen 30 und 60 Prozent der Protestierenden; in anderen Städten sah es ähnlich aus.
Seitdem am 30. Juni die Schulferien begonnen haben, sind die LehrerInnen durch eine andere Gruppe abgelöst worden, die intermittents du spectacle. So heißen die meist prekär beschäftigten Kulturschaffenden, etwa SchauspielerInnen am Theater, aber auch BühnenbauerInnen und ToningenieurInnen, die zwischen zwei Aufführungen keinen Verdienst haben und nach Sonderregeln aus der Arbeitslosenkasse alimentiert werden. Diese Unterstützung soll jetzt drastisch reduziert werden. Zudem wird ein Drittel der Kulturschaffenden durch eine Verschärfung der Aufnahmekonditionen ganz aus der Unterstützung rausfallen.
Nun droht den BetreiberInnen von Festivals und Kulturveranstaltungen ein heißer Sommer. So ist das berühmte Theaterfestival von Avignon ernsthaft gefährdet, denn die TechnikerInnen sind seit Ende Juni im unbefristeten Streik. Das Lyrikfestival in Aix-en-Provence, das am 27. Juni beginnen sollte, wurde bereits abgesagt. In Lille und Caen wurden die städtischen Theater besetzt, letztere Aktion beendete ein brutaler Polizeieinsatz.
Mit den LehrerInnen sowie den KünstlerInnen und Kulturschaffenden haben sich zwei soziale Gruppen radikalisiert, die sich durch stark überdurchschnittlichen Bildungsgrad auszeichnen und die Wert auf eine intellektuelle Autonomie und Entfaltungsmöglichkeiten legen. Sie gehören nicht zu den am schlechtesten Gestellten in der Gesellschaft, und dennoch sind sie unmittelbar - in ihren Arbeits- und Gestaltungsmöglichkeiten - von den Auswirkungen neoliberaler, kapitalistischer Politik betroffen. »Akademisches Proletariat« nannte man das früher. Sie werden sich nicht so schnell zur Ruhe bringen lassen. Es ist zu hoffen, dass der Anschluss an andere Teile der Gesellschaft gelingt, die ihrerseits allen Grund zum Protest haben.
Bernhard Schmid lebt und arbeitet als Jurist und freier Journalist in Paris.