Einen Euro und ein Schuldgeständnis

Der französische Jude Kurt-Werner Schaechter verklagt die Eisenbahngesellschaft SNCF wegen Mithilfe zu Deportationen in den Jahren 1940 bis 1944. Auch in den USA und Kanada wurden Klagen eingereicht. Von Raphaela Häuser

»Die SNCF muss sich nicht entschuldigen, dass sie einer Autorität unterworfen war, die ihr befahl, Juden in die Vernichtungslager zu transportieren«, findet der Generaldirektor des französischen Eisenbahnunternehmens Louis Gallois. Damit reiht sich die Société Nationale des Chemins de Fer Français (SNCF) in die Reihe derer ein, die sich hinter dem juristischen Winkelzug des Befehlsnotstands während der deutschen Besatzungszeit im Verlauf des Zweiten Weltkriegs verschanzen. Allein über das französische Sammellager Drancy hatten zwischen dem 27. März 1942 und dem 31. Juli 1944 77 Züge der SNCF unter anderem 76000 in Frankreich lebende Juden und Jüdinnen zu den deutschen Vernichtungslagern deportiert. Nur 2400 von ihnen kehrten zurück.

Bereits seit einigen Jahren klagt Kurt-Werner Schaechter gegen die SNCF auf einen symbolischen Euro Entschädigung und die Anerkennung ihrer wissentlichen Mithilfe bei der Deportation seiner Eltern in die Todeslager der NationalsozialistInnen. Emil und Margarethe Schaechter wurden 1943 und 1944 aus Frankreich in die Konzentrationslager Sobibor und Auschwitz verschickt und dort ermordet. Sie wurden allerdings nie offiziell festgenommen: Von der Polizei aufs Revier vorgeladen, kamen sie nie zurück.

Indizien für die Schuld der SNCF hat der 82-Jährige gebürtige Wiener mehr als genug gesammelt: 1992 soll er nach Angaben der Süddeutschen Zeitung aus einem Toulouser Archiv zirka 12000 Dokumente heraus und wieder hereingeschmuggelt haben - nachdem er zur Sichtung des ungeordneten Materials Kopien angefertigt hatte. Unter diesen Dokumenten befanden sich unter anderem der Ausweis seiner Mutter und zahlreiche Deportationsrechnungen. Die Rechnungen für die Deportationszüge der SNCF listen minutiös auf, wie viele Personen an welchen Tagen und von welchem Ort deportiert wurden. Der zu zahlende Betrag - auf den Centime genau berechnet - ist detailliert für jeden Transport notiert.

Darüber hinaus hat der Historiker Christian Bachelier im Jahr 1996 nach der teilweisen Öffnung der SNCF-Archive eine Studie über das Unternehmen unter deutscher Besatzung in den Jahren 1940 bis 1944 veröffentlicht. Bacheliers Bericht deckt auf, dass die Eisenbahngesellschaft unter anderem Aufschläge für die Zusammenstellung von Zügen und Fahrplänen, für die Umgehung der Hauptbahnhöfe, die Bereitstellung der »besten«, sprich ausbruchsichersten, Viehwaggons und die Verplombung der Wagen von außen berechnete. Gerade diese minutiöse Planung der Deportationszüge spricht jedenfalls für die aktive Mithilfe der SNCF, die sich selber jedoch gerne als Unterdrückte stilisiert. Bachelier wies unter anderem im Jahr 2000 darauf hin, dass die von Schaechter vorgelegten Rechnungen im Juli 1992 der SNCF und der Öffentlichkeit bisher unbekannte Einblicke in die Abläufe der Deportationspraxis und die Rolle der französischen Eisenbahn eröffneten.

Schaechters Klage ist der erste Zivilprozess dieser Art vor einem französischen Gericht, allerdings wurde sie wegen Verjährung im Mai dieses Jahres vorerst vom Pariser Zivilgericht der zweiten Instanz zurückgewiesen. Seit 1973 beziehungsweise 1974, also dreißig Jahre nach dem Tod von Schaechters Eltern, sei der Anspruch auf eine Zivilklage in diesem Fall verjährt, urteilte der Gerichtshof. Doch Schaechter wird nicht klein beigeben. Wie schon die geforderte Entschädigungssumme zeigt, geht es ihm nicht um finanzielle Ansprüche, sondern um Erinnerung und Gedenken. Sein Anwalt Joseph Roubache erklärte gegenüber der französischen Zeitung Le Monde, sobald die SNCF ihre Verantwortlichkeit einräume, werde man den Vorgang sofort beenden. Wenn auch die Klage bisher noch keinen juristischen Erfolg erzielen konnte, so hat der Kläger doch schon einen Teilsieg errungen: Das enorme Medienecho hat in Frankreich die von der SNCF gefürchtete öffentliche Diskussion bereits aufgeworfen. Zudem wurde inzwischen beim Berufungsgericht in Paris Widerspruch eingelegt.

Roubache und Schaechter stützen sich dabei auf ein Urteil der Strafkammer des obersten französischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1995, das besagt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit könnten auch nach dem Zivilrecht nicht verjähren. 1998 waren die Deportationen anlässlich des Prozesses gegen den NS-Kollaborateur Maurice Papon eindeutig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert worden. Aber selbst wenn die Möglichkeit der Verjährung für diese Art von Verbrechen gegeben wäre, so Roubache, gälte der Verjährungszeitraum von dreißig Jahren erst ab Bekanntwerden des Verbrechens. Das ist in diesem Fall eindeutig zu datieren: Das entscheidende Datum, so beurteilt neben Roubache auch der Historiker Bachelier, sei die Veröffentlichung der Dokumente im Jahr 1992. Vor allem die Tatsache, dass die Eisenbahngesellschaft noch nach der Befreiung derartige Rechnungen ausstellte und von der Präfektur beglichen bekam, war bis dahin völlig unbekannt. Dies zeigt einmal mehr die Skrupellosigkeit, mit der die SNCF an den Deportationen Geld verdiente.

Die SNCF plädiert zum einen auf Verjährung des Verbrechens. Vor allem aber leugnet sie die aktive Mithilfe an den Deportationen und blockiert die Offenlegung historischer Fakten und Dokumente - und das, obwohl ihr Generaldirektor Gallois im Jahr 2000 den klaren Willen zur Beleuchtung der dunklen Seiten der SNCF-Geschichte erklärt hatte. Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren, die SNCF-Führung äußert sich nur spärlich zu ihrer Vergangenheit, auf ihrer Internetpräsenz sucht man vergeblich nach den Dokumenten aus Bacheliers Bericht.

Auch in anderen Ländern wurden inzwischen Klagen gegen die SNCF eingereicht, so beispielsweise 1998 in Kanada durch den Shoa-Überlebenden Jean-Jacques Fraenkel. Im Jahr 2000 haben zudem in New York dreihundert Überlebende eine Sammelklage angestrengt. Diese war zwar zuerst mit der Begründung, die SNCF genieße als staatliches Unternehmen Souveränität, abgewiesen worden, das Berufungsgericht in Manhattan hob das Urteil jedoch letzten Monat auf. Sollte die Klage nun zugelassen werden, muss die SNCF ihre kompletten Archive öffnen - und damit sämtliche Verstrickungen in die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes offen legen. Bisher gelten für die Akteneinsicht zu persönlichen Daten im SNCF-Archiv Sperrfristen von 100 bis 150 Jahren.

Auch im New Yorker Fall zeigt sich die SNCF uneinsichtig und überheblich und wollte sich bisher nicht äußern. Man pflege nicht, juristische Entscheidungen zu kommentieren, zudem habe man neunzig Tage Zeit, über die Möglichkeit eines Berufungsverfahrens vor dem Supreme Court nachzudenken, heißt es dort lapidar. Als Schutzschild benutzt die SNCF gerne die zirka achttausend EisenbahnerInnen, die wegen Widerstandshandlungen hingerichtet wurden. So versucht man, die Verfehlungen des Unternehmens mit dem gewaltsamen Tod seiner Beschäftigten zu vertuschen, die gegen eben dieses Unternehmen gearbeitet haben. Auch mit dem Taktgefühl angesichts mehrerer laufender Klagen ist es bei der SNCF nicht weit her: Noch 2002 hatte die Eisenbahngesellschaft mit dem Slogan »Nous allons vous faire aimer le train« (Wir werden sie dazu bringen, die Eisenbahn zu lieben) geworben.