»Klassenkampfreferat«?

An der Universität Münster hat sich ein Autonomes Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende gegründet. Von Raphaela Häuser

»Schließlich muss nicht jeder studieren, so wie ein Blinder auch nicht Pilot oder Busfahrer werden muss«, schrieb Stefano G. am 12. August in das Gästebuch des Münsteraner AStA. Insgesamt sind die Reaktionen auf das Autonome Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende an der Universität Münster geteilt. Vor allem der Kurzname ArbeiterInnenkinderreferat sorgt für helle Aufregung bei den GegnerInnen, die vom »Sozialschmarotzer« bis zu faulen und dummen ArbeiterInnen in ihren Beschimpfungen kein Klischee auslassen. Immer wieder müsse man die Existenz des Autonomen Referats rechtfertigen, da die finanzielle und kulturelle Benachteiligung von Kindern aus Familien der unteren Einkommensklassen meist nicht wahrgenommen werde, so Andreas Kemper, Sozialreferent des AStA der Universität Münster, der seit Beginn dieses Semesters auch zuständig für das neu gegründete Referat ist.

Vierzig Prozent aller 19- bis 24-Jährigen kommen aus finanziell schwächeren Familien. An den deutschen Universitäten machen sie aber gerade einmal elf Prozent der StudentInnen aus - Tendenz sinkend. Aber die Kinder von ArbeiterInnen, unteren BeamtInnen und Angestellten, Bauern und Bäuerinnen sowie SozialhilfeempfängerInnen sind nicht nur finanziell benachteiligt. Auch kulturell könnten die Familien aus unteren Einkommensklassen ihren Kindern nicht die gleiche Unterstützung bieten wie AkademikerInnenfamilien, präzisiert Kemper.

Die strukturelle Benachteiligung von Kindern aus ArbeiterInnenhaushalten ist kein Geheimnis. Diverse Studien von PISA über IGLU, die Sozialerhebung des Deutschen StudentInnenwerks und des Hochschulinformationssystems (HIS) belegen, dass die Probleme vom Kindergarten bis zur Weiterbildung vielfältig sind. Denn Kinder aus ArbeiterInnenfamilien können nicht in gleichem Maße auf die Hilfe der Eltern zurückgreifen und fallen entschieden häufiger dem selektiven gegliederten Schulsystem zum Opfer. So ist der Anteil der Kinder aus so genannten unteren sozialen Herkunftsgruppen mit 33 Prozent an Gymnasien bereits viel geringer als der Anteil von BeamtInnen- und Selbstständigenkindern, von denen immerhin 84 Prozent eine »hochschulführende Schule« besuchen. Der Gegensatz verschärft sich weiter beim Hochschulzugang: Gerade einmal acht Prozent aller Kinder von Eltern aus unteren Einkommensklassen besuchen eine Hochschule, bei den oberen Einkommensschichten sind es 72 Prozent. Weiterhin sind die finanziell und kulturell benachteiligten StudentInnen überproportional bedroht von Langzeitstudiengebühren und die Studienabbruchquote liegt weit über der ihrer zahlungskräftigeren KommilitonInnen.

Zu einer ersten Vollversammlung von Kindern mit so genannter bildungsferner Herkunft im Juli 2003 waren fünfzig StudentInnen gekommen. Beschlossen wurde die Einrichtung einer Selbstvertretung der ArbeiterInnenkinder nach dem Modell der Autonomen Referate, die unabhängig von den ASten Diskriminierungen bekämpfen. Dennoch hatte es im Vorfeld bei einigen Beteiligten Bedenken gegeben, ob die autonome Interessensvertretung der ArbeiterInnenkinder nicht zu einer Selbststigmatisierung führe.

Seit Beginn dieses Semesters teilen sich nun zwei MitarbeiterInnen eine Stelle, die für die Koordination des Referats zuständig sind und zukünftige Veranstaltungen organisieren sollen. Einmal im Monat findet ein Plenum zusammen mit den Autonomen Referaten für AusländerInnen, Behinderten, Frauen sowie Schwule und Lesben statt, mit denen das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende in enger Zusammenarbeit steht, da die Diskriminierungsmechanismen für alle vertretenen Gruppen ähnlich sind. Auf einer jährlichen Vollversammlung sollen die MitarbeiterInnen des Referats Rechenschaft ablegen.

Ein besonderes Augenmerk soll auf die Belange der MigrantInnenkinder mit deutschem Pass gelegt werden, die zu neunzig Prozent aus ArbeiterInnenfamilien kommen. Bei ihnen verschärft sich die Problematik noch einmal zusätzlich, da zur finanziellen und kulturellen Benachteiligung noch rassistische Diskriminierung hinzutritt.

Bundesweit ist das Projekt des AStA der Universität Münster bisher einmalig - sowohl im universitären als auch im schulischen Bereich. Auch die SchülerInnenvertretungen, so betont Kemper, werden meist von GymnasiastInnen gestellt, andere Schulformen sind - wenn überhaupt - unterrepräsentiert. Das Interesse seitens anderer Hochschulen ist groß. So kommen Anfragen von anderen bundesdeutschen ASten bis hin zur Österreichischen HochschülerInnenschaft.

Im Gegensatz zu den anderen Autonomen Referaten ist das ArbeiterInnenkinderreferat nicht in der Satzung der StudentInnenschaft festgeschrieben, weil es für eine Satzungsänderung einer Zweidrittelmehrheit im StudentInnenparlament bedurft hätte. Dagegen sperren sich aber die Liberale Studenteninitiative (LSI) und der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), die das neue Referat gerne als »Klassenkampfreferat« betiteln und im Gästebuch des AStA zum Protest aufrufen.