Norbert Herbig, 62, ist Gesamtschwerbehindertenbeauftragter der Stadtverwaltung Köln. Seit Anfang der Achtzigerjahre ist er blind. Aus Anlass des Europäischen Jahres für Menschen mit Behinderungen sprach die philtrat mit ihm über die Situation behinderter Menschen in Köln. Das Gespräch führte Volker Elste.
2003 ist das Europäische Jahr für Menschen mit Behinderungen. Bewirkt die Ausrufung eines derartigen Jahres überhaupt etwas?
Ein solches Jahr kann die Sache behinderter Menschen vielleicht bekannter machen, weil zahlreiche Veranstaltungen stattfinden. Die Veranstaltungen, an denen ich dieses Jahr teilgenommen habe, fand ich aber eher unerfreulich. Es wurden kluge oder auch weniger kluge Worte gesprochen, aber im Endeffekt stand nichts dahinter. Natürlich lässt man in Gesprächen den Begriff »Jahr der Behinderten« fallen. Deswegen wird aber kein zusätzlicher Aufzug eingebaut.
Können sie Beispiele für solche Negativerlebnisse nennen?
Bei der Kölner Eröffnungsveranstaltung glänzten die beiden Schirmherren - der Oberbürgermeister und Frau Neven DuMont - durch Abwesenheit und ließen sich vertreten. Auch von den Ratsherren und -damen waren meiner Erinnerung nach nur ein oder zwei anwesend. Ein erbärmliches Bild, das aber zugleich zeigt, wie Verantwortliche dieser Stadt mit dem Thema umgehen.
Wie würden sie generell die Situation für Menschen mit Behinderungen in Köln einschätzen?
Es gibt in dieser Stadt sehr große Hindernisse für behinderte Menschen. Die Situation hat sich aber in den letzten Jahren verbessert, unter anderem durch das Bundesgleichstellungsgesetz. Dadurch ist gerade die Stadtverwaltung als Bauträger von öffentlichen Einrichtungen gezwungen, Behindertenverbände in die Planungen einzubinden. Nur so können dann beispielsweise Bundesmittel fließen. Vor zirka zwei Jahren hat der Rat den Beschluss gefasst, dass im Falle von Sanierungen immer barrierefrei gestaltet werden muss.
In welchen Bereichen gibt es ihrer Meinung nach Nachholbedarf?
Gerade beim öffentlichen Nahverkehr gibt es nach wie vor große Probleme. Sicher aber auch im privaten Bereich. Viele der Barrieren ließen sich dabei schnell beseitigen, etwa Drehkreuze. Rollstuhlfahrer müssen sich sehr klein machen, um ein solches Hindernis zu bewältigen. Andere Lösungen sind schwieriger. Seit zirka zwanzig Jahren kämpfen Sehgeschädigte mit der KVB um ein akustisches Informationssystem für Haltestellen. An der Haltestelle Heumarkt fahren zum Beispiel vier Linien. Wenn ich als blinder Mensch Pech habe, muss ich dort viermal nach der gerade einfahrenden Linie fragen. Von der KVB werden fadenscheinige Argumente gegen eine Linienansage angeführt: Die Umweltbelastung sei zu hoch, die Anwohner würden sich beschweren. Dies sind vorgeschobene Gründe, denn es wurde bisher noch nicht versucht und müsste nur an Knotenpunkten der Fall sein. Die entsprechende technische Einstellung dürfte eigentlich kein Problem sein.
Wie ist die Situation bezüglich der Bahnsteige und des Ein- und Aussteigens?
Bahnsteige werden nach und nach umgerüstet. So wird der Abstand zwischen Bahnsteigkante und Zug, aber auch die Höhe der Bahnsteigkante so gering gehalten, dass Rollstuhlfahrer einsteigen können. Ein Musterbahnsteig befindet sich an der Keupstraße in Mülheim. Hier wurde ein Leitstreifen für Sehgeschädigte gezogen, der unter anderem zur nächsten Busverbindung führt. Diese Beispiele gibt es, jedoch nicht in ausreichendem Maß. Auch am Hauptbahnhof, der ja erst vor kurzem umgebaut wurde, wird jetzt dieses Blindenleitsystem eingebaut. Generell ist aber noch viel zu tun.
Und wie ist die Situation bei Unternehmen?
Auch hier gibt es Probleme, wie zum Beispiel bei der Kaufhof AG. Wenn ich als Blinder in den Kaufhof gehe, kann ich zwar jede Etage erreichen, im Aufzug jedoch stehe ich wirklich blind da, weil kein ertastbares Tableau und keine Lautsprecherdurchsage existiert. Ich stehe dann im Aufzug und weiß nicht, in welcher Etage ich bin. Das Zentrum für selbstbestimmtes Leben hat mit sehr viel Mühe einen Stadtführer herausgegeben, der barrierefreie Apotheken, Kindergärten, Krankenhäuser, Architekten et cetera beschreibt. Die Tendenz muss aber einfach sein, dass wir überhaupt keine Barrieren mehr haben.
Eigentlich müssten behindertengerechte Umbaumaßnahmen ja auch nachrüstend erfolgen.
Eine barrierefreie und behindertengerechte Planung und Bauweise ist mit geringen Kosten verbunden, wenn neu gebaut oder saniert wird. Wenn jedoch ein bestehendes Gebäude nachträglich behindertengerecht ausgestattet wird, kann es sehr teuer werden. Die beiden Rathäuser beispielsweise wurden kernsaniert und waren somit keine Problemfälle. Allerdings mit Ausnahme der historischen Teile, da hier das Denkmalamt Widerspruch einlegte. Beim Rathausturm beispielsweise sehe ich das auch ein. Man kann ihn einfach nicht behindertengerecht ausstatten. In allen anderen Fällen jedoch müssen diese Aspekte berücksichtigt werden.
Inwiefern wäre in dieser Situation ein Schwerbehindertenbeauftragter oder eine Schwerbehindertenbeauftragte für die gesamte Stadt Köln sinnvoll?
Ich habe immer die Meinung vertreten, dass wir dringend einen Schwerbehindertenbeauftragten brauchen. Unter anderem, weil ich in meiner Funktion als Schwerbehindertenbeauftragter für Angestellte der Stadtverwaltung oft mit einem solchen verwechselt werde. Zugleich muss ich allerdings sagen, dass ich diese Verwechslung oft gerne annehme und erst später auflöse. So konnte ich auf verschiedene Objekte Einfluss nehmen, die mir andernfalls verschlossen geblieben wären. Mit den Architekten des neuen Stadions habe ich beispielsweise über eine barrierefreie Planung diskutiert.
Was wären die Aufgaben eines solchen Beauftragten?
Wir brauchen keine Alibiinstitution, wie dies in anderen Städten häufig der Fall ist, wenn ein Sachbearbeiter im Sozialamt als Behindertenvertreter fungiert. Stattdessen muss er vom Rat bestellt sein, seine Stelle muss als Querschnittsamt verstanden werden, das zu allen wichtigen Ämtern Zugang hat. Er muss mit Kompetenzen ausgestattet sein und Kontakt zu den Behindertenverbänden halten. Er muss Beschwerden annehmen können und diese auch bearbeiten. Er muss weiterhin auch Kontakt zu Firmen aufnehmen können.
Woran liegt es ihrer Ansicht nach, dass es keinen Schwerbehindertenbeauftragten gibt?
Zum einen ist es eine finanzielle Frage. Eine derartige Person kostet Geld, ein Büro kostet Geld. Das muss politisch gewollt sein. Die Kommunen sind jedoch momentan beinahe pleite. Fordern kann man eine derartige Stelle sicher, jedoch ohne große Erfolgsaussichten.
Welche Rolle spielen, auch da es keinen Behindertenbeauftragten gibt, Behinderteninitiativen?
Vor einiger Zeit wurde ein behindertenpolitischer Ausschuss gegründet, der an das Sozialamt angegliedert ist. In diesem Gremium sitzen sieben Behindertenverbände, dazu Politiker und Verwaltungsmitglieder. Dieser Ausschuss ist aber kein Ersatz für einen Behindertenbeauftragten. Es gibt seit kurzer Zeit auch ein Behindertennetzwerk, in dem die einzelnen Verbände zusammengeschlossen sind. Es ist aus der Not heraus entstanden, weil durch das Bundesgleichstellungsgesetz die öffentlichen Bauherren gezwungen wurden, sich mit dem Behindertenbeauftragten zusammenzusetzen. Da es diesen nicht gibt, haben sich die Verbände vernetzt, um als Ansprechpartner auftreten zu können.
Bedeutet dies, dass in Köln sehr viel über nicht an die Stadt gebundene Behindertenverbände läuft?
Ja. Hierdurch ist aber auch eine absurde Situation entstanden. Wenn beispielsweise das Amt für Stadtbahn und Brückenbau die Nord-Süd-U-Bahn plant, wird das gesamte Netzwerk eingeladen. Dies ist ein riesiger Aufwand. Mit einem Behindertenbeauftragten, der einen Fachmann zur Seite hat, wäre das natürlich sehr viel rationeller. Der Transfer zu den Verbänden könnte dann hinterher erfolgen. Gut an der momentanen Regelung ist jedoch, dass die Aspekte der behinderten Menschen in dieser Stadt überhaupt geäußert werden können.