Der ehemalige Edelweißpirat Jean Jülich hat seine Memoiren geschrieben. Unter dem Titel Kohldampf, Knast un Kamelle. Ein Edelweißpirat erzählt sein Leben ist das Buch beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Das Buch ist nicht nur für KölnerInnen interessant, denn »Edelweißpiraten«, eine unangepasste Jugendbewegung im »Dritten Reich«, gab es auch im Ruhrgebiet und anderen Städten. In Düsseldorf etwa nannten sie sich »Kittelbachpiraten«, in anderen Gegenden »Navajos«.
Es ist eine alte Streifrage, ob die EdelweißpiratInnen nur unangepasste Jugendliche oder doch WiderstandskämpferInnen waren, die in einem Atemzug mit dem linken, bürgerlichen und christlichen Antifaschismus genannt werden dürfen. Jean Jülich beantwortet diese Frage in der für ihn typischen direkten und schlichten Ehrlichkeit so: »Wir waren Jungen und Mädchen, denen der HJ-Drill nicht passte, und wir wollten unserem Protest dagegen Ausdruck verleihen. Uns ging es nicht um die große Politik, wir handelten nach dem, was uns der gesunde Menschenverstand gebot. In einer Diktatur war es aber nur ein kleiner Schritt von da zum politischen Widerstand.« Damit dürfte er den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Unangepasstheit ist in jeder bürgerlichen Gesellschaft verdächtig, im Faschismus ist sie ein Verbrechen. Deswegen verfolgten die Nazis die EdelweißpiratInnen so unbarmherzig.
Natürlich hatten die EdelweißpiratInnen kein politisches Programm und kein Konzept, wie man den NS-Faschismus stürzen könnte, aber das wäre wohl auch bei 15- bis 16-jährigen Jugendlichen ein bisschen viel verlangt. Einige schafften den Übergang zum politischen Widerstand, die anderen waren zumindest mutiger als die meisten anderen Deutschen, die entweder schwiegen oder zu einem großen Teil bereitwillig mitmachten. Nur nachher wollte es natürlich niemand gewesen sein: »Es war schon erstaunlich. Nach dem Krieg wimmelte es in unserer Stadt plötzlich von Widerstandskämpfern: Jeder zweite hatte Schlimmes erdulden müssen und gleichsam kurz vor der Verhaftung gestanden. Es war ekelhaft, mit anzuhören, wie ehemalige stramme Nazis nun ihr Fähnchen in den neuen Wind hielten.« Selten wurde das bereitwillige Mitmachen vieler Deutscher während der Nazi-Diktatur treffender beschrieben.
Jülich ist kein Intellektueller und kein politischer Aktivist. Nach 1945 hat er alle Vereinnahmungsversuche, auch von Linken, zurückgewiesen. Sein Vater allerdings war Funktionär der KPD und saß unter den Nazis zehn Jahre im Gefängnis. Auch Mutter und Großmutter wurden für ein halbes Jahr aus politischen Gründen inhaftiert. Von 1945 bis 1978 beschäftigte sich Jülich weder besonders mit Politik noch mit seiner Vergangenheit als Edelweißpirat. Als kölsches Original betätigte er sich lieber als Kneipier und Karnevalist, und zwar nicht im Alternativkarneval, sondern bei »normalen« Karnevalsvereinen. Er selbst bezeichnet sich sogar als Vereinsmeier. Er engagierte sich für ein BürgerInnenzentrum im Kölner Severinsviertel und stellte seine legendäre Kneipe Blomekörvge gelegentlich auch politischen Gruppen für Treffen zur Verfügung. Dort trafen sich dann sowohl SPD und CDU als auch DKP und SSK (Sozialistische Selbsthilfe Köln). Er lernte die gesamte Kölner Prominenz von Trude Herr bis Wolfgang Niedecken kennen und schien sich im Großen und Ganzen mit seiner Stadt und seinem Land, trotz der vielen DenunziantInnen und MitläuferInnen in der NS-Zeit, ausgesöhnt zu haben.
Als jedoch 1978 auf Grund eines Beitrages im Fernsehmagazin Monitor die Diskussion um die EdelweißpiratInnen entbrannte, mischte er sich ein und verteidigte ihre moralische Integrität gegen alle Angriffe aus Politik, Geschichtswissenschaft und Bevölkerung, die in den EdelweißpiratInnen nach wie vor »Kriminelle« und »Kraade« (kölsch für Pöbel, Gesocks) sehen wollten. Der Staat Israel verlieh ihm 1984 den Titel eines Gerechten unter den Völkern. Auch in Deutschland wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz und anderen Auszeichnungen geehrt. Nach seinem Freund Bartholomäus Barthel Schink, der 1944 im Alter von 16 Jahren von den Nazis gehängt wurde, ist heute im Kölner Stadtteil Ehrenfeld eine Straße benannt. Bei den deutschen Behörden wird Schink allerdings immer noch als »Krimineller« geführt. Jülich bezeichnet dies zu Recht als Treppenwitz.
Alles in allem hat Jülich ein wichtiges und lesenswertes Buch geschrieben. Seine direkte, unpathetische, unprätentiöse und humorvolle Art macht das Buch zu einer ebenso spannenden wie kurzweiligen Lektüre. Eine Kölner Schülerin drückte es in einem Brief 2001 so aus: »Ich habe wahnsinnigen Respekt davor, dass Sie nicht so feige waren wie viele andere, die Augen und Ohren vor den Tatsachen verschlossen haben. Außerdem sind sie ein cooler kölscher Typ wie mein Opa und wenn Sie einem historische und persönliche Informationen nahe bringen, wird es nicht langweilig und man schläft auch nicht ein! War echt interessant!«
Jean Jülich: Kohldampf, Knast un Kamelle. Ein Edelweißpirat erzählt sein Leben, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 19,90 Euro.