Eine zehn Meter hohe Antenne erhebt sich über der kleinen Holzhütte im Viertel La Florida, die normalerweise als Suppenküche, Bäckerei oder Versammlungsraum, heute aber als Fernsehstudio dient. La Florida liegt in Solano, in der Provinz Buenos Aires, ungefähr eine Stunde Busfahrt vom Zentrum der Hauptstadt Argentiniens entfernt.
Die Grenze zwischen der Hauptstadt und der Provinz markiert auch die Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen denen, die am städtischen Leben, am Konsum teilhaben können und dürfen, und denen, die ausgeschlossen sind, für die in der argentinischen Gesellschaft kein Platz und keine Arbeit mehr vorgesehen sind. Die meisten der Piquetero-Organisationen stammen aus dem Armutsgürtel um die Hauptstadt herum. Piqueteros nennen sich die Erwerbslosen, die aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit nicht mehr die Möglichkeit haben, Betriebe zu bestreiken und stattdessen Zufahrtsstrassen, Supermärkte oder Fabriken blockieren, um die Zirkulation der Waren zu unterbrechen und ökonomischen Schaden anzurichten. Die Forderungen der Piqueteros reichen von Arbeitsverträgen, Nahrungsmitteln, Zurücknahme von Entlassungen bis hin zur Rücknahme der Sperrungen von Strom und Wasser.
Doch zurück nach La Florida. Seit dem Vormittag laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren: Der Sendemast wird aufgerichtet, diverse Meter Kabel verlegt, die Kameramänner und -frauen checken ihre Kameras noch einmal durch, die Männer der Koch-Crew formen hunderte von kleinen Pizzen und Empanadas, das alles inmitten von kreischenden Kindern, die aufgeregt auf den Beginn des Programms warten.
Heute ist der Tag, auf den die TeilnehmerInnen des Video-Workshops der Nachbarschafts- und Piquetero-Organisation Mup-20 (Movimiento Unidad Popular 20 de Diciembre) und des Videokollektivs Grupo Alavío in den letzten Wochen hingearbeitet haben: die Live-Übertragung des Piraten-Fernsehsenders TV-Piquetera. Das Videokollektiv aus Buenos Aires existiert bereits seit zehn Jahren. Außer TV-Piquetera unterstützt Mup-20 Bäckereien, Suppenküchen, Holzwerkstätten und Hausaufgabenhilfen. Die Intention ist, zu produzieren, zu lernen, sich weiterzubilden, da der Arbeitsmarkt keinerlei Möglichkeiten mehr bietet und ein großer Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung von Arbeit ausgeschlossen ist.
TV-Piquetera sendet bereits zum zweiten Mal aus La Florida und insgesamt zum fünften Mal aus Solano. Die Idee entstand aus der Zusammenarbeit der beiden Gruppen. »Es ist absolut notwendig, die Geschichte des Widerstands mit unseren eigenen Kommunikationsmitteln zu erzählen, denen unserer Organisationen, anstatt gegen die Zensur und Missinformation der kommerziellen Medien anzukämpfen.« Mit diesen Worten beschreibt das Kollektiv Alavío die Idee von TV-Piquetera. Technologie und Techniken audiovisueller Kommunikation sollen somit auch für marginalisierte gesellschaftliche Schichten zugänglich gemacht und die Produktion audiovisuellen Materials demokratisiert werden. »Die kommerziellen Medien monopolisieren Information. Wir versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem die ProtagonistInnen des Widerstands selber ihre Geschichte erzählen können.«
TV-Piqueteras erste große Übertragung fand im September 2003 während einer Blockade der Brauerei Quilmes durch verschiedene Piquetero-Organisationen statt. Die AktivistInnen sendeten live auf der Frequenz eines Lokalsenders ihr Piraten-Fernsehprogramm. Die Intention dieser Übertragung war es, der hetzerischen Berichterstattung der offiziellen Medien eigene Informationen gegenüber zu stellen. Die Nachbarschaft wurde so über den Sinn der Aktion, die Forderungen der Piqueteros nach Schaffung von Arbeitsplätzen und würdiger Arbeit aufgeklärt. Während der Übertragung drückten die AktivistInnen in ihren eigenen Worten die Gründe für ihren Protest aus, gaben direkte Informationen über den Ablauf der Aktion und beschrieben, was es für sie bedeutet, als Piquetero auf die Straße zu gehen. Die Blockade endete mit der Zusage des Unternehmens, Computer und andere infrastrukturelle Hilfen, insbesondere Suppenküchen, für die Gruppen bereitzustellen.
Die jetzige Übertragung vom 13. März ist dem Thema »8. März - Internationaler Frauenkampftag« gewidmet. Die ganze Woche über kamen bis zu zwanzig verschiedene TeilnehmerInnen, hauptsächlich Frauen aus dem Viertel, zusammen, um den Inhalt der Übertragung zu planen, Videos zu produzieren, Interviews mit Nachbarinnen durchzuführen, die Handhabung einer Kamera zu lernen, das Material zu schneiden und mit dem Computer zu bearbeiten. Auch die Moderation und Gestaltung der Beiträge lag in den Händen der Workshop-TeilnehmerInnen. »Ich habe Dinge gelernt, die ich vorher noch nicht einmal gesehen habe; wie ich ein Video schneide, eine Kamera halte oder mit einem Computer umgehe«, erzählt Sandra, 32, allein erziehende Mutter von zwei Kindern und seit einem halben Jahre bei Mup-20 aktiv.
Die Übertragung dauert mehr als sechs Stunden und steht wie immer unter dem Motto »Das Programm aus unserer Nachbarschaft und unserer Perspektive«. Beim Rundgang durch die Straßen der Nachbarschaft sieht man, dass in vielen Häusern der Fernseher auf Kanal 5 eingestellt ist, die Frequenz, auf der TV-Piquetera sendet.
Neben der Aneignung der technischen Fähigkeiten kamen im Laufe der Woche viele frauenspezifische Themen zur Sprache: Was bedeutet es, als Frau zu kämpfen, Piquetera zu sein, wie unterscheidet sich ihr Kampf von dem der Männer, welche Strukturen fehlen, um Frauen in ihrer doppelten Rolle als oft allein erziehende Mutter und Aktivistin zu unterstützen? »Hinter jeder von uns steht ja auch eine Familie, Kinder, die nicht immer einverstanden sind mit der Entscheidung, die wir getroffen haben. Sie haben Angst, dass uns etwas auf der Strasse passiert, sie leben in einer anderen Welt, werden sehr beeinflusst von den negativen Bildern, die das Fernsehen über uns, über die Piqueteros verbreitet. Das macht die Situation für uns natürlich kompliziert«, erzählt Marisa, 34, Mitbegründerin des Mup-20.
Mup-20 besteht zu mehr als der Hälfte aus Frauen. »Einige Themen sind für uns als Frauen komplizierter, aber alles in allem ist der Kampf auf der Strasse für die Männer und uns der gleiche, auch wenn es die Männer sind, die uns beschützen, den starken Mann machen, wenn etwas zu passieren droht«, erklärt Marisa. Vor allem die jüngeren Frauen kritisieren, dass es gerade im Fall der Seguridad, den Gruppen, die die Blockaden bewachen, die Straßenzufahrten mit brennenden Reifen blockieren, sehr wohl fast nur Männer sind, die vermummt und mit dem Stock in der Hand dastehen. »Wenn wir sagen, dass wir diesen Teil übernehmen wollen, werden wir auf den Versammlungen belächelt«, sagt Florencia, 24 Jahre alt und seit einem Jahr in der Mup-20 aktiv. »Dabei können wir das genauso gut wie sie.«
Auf einer Versammlung zur Nachbereitung einer Übertragung erzählt Maria, Delegierte der Mup-20, dass sie von NachbarInnen gefragt wurde »wie kann es sein, dass ihr arbeitslos seid und einen Fernsehsender habt? Wir sagen, wer sollte denn keinen Zugang zu den eigenen Medien haben? Wir haben das Recht uns zu organisieren und Zugang zu Werkzeugen zu haben, die uns befreien. Unsere Nachbarn lernen unseren Kampf kennen und zwar nicht so, wie uns die Fernsehkanäle darstellen, als faul und gewalttätig, sondern als einfache Nachbarn mit den gleichen Problemen der Arbeitslosigkeit und Arbeit. Und vielleicht bewegt es einen der Nachbarn, der unser Programm sieht und er wird auch aktiv.«