Warum ist der Hochschulbesuch umsonst, aber muss der Kindergartenplatz bezahlt werden? Sind kostenlose Hochschulen nicht sozial ungerecht? Sollten StudentInnen nicht die Kindergärten unterstützen - mittels Studiengebühren? Diese Argumente werden in letzter Zeit immer häufiger vorgebracht, sei es vom bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU), vom Bildungsexperten der taz, Christian Füller, oder auch vom StudentInnenrat der Universität Erfurt. Erdacht wurde diese Argumentation in den Neunzigerjahren in den Think Tanks und politikberatenden Agenturen. Sie soll für ansonsten ratlose BildungspolitikerInnen den Durchbruch in der öffentlichen Akzeptanz von Studiengebühren bewirken.
Bis weit in die Neunzigerjahre war die »Soziale Frage« die entscheidende Schwachstelle der BefürworterInnen von Studiengebühren. Sie hatten dem zentralen Einwand nichts entgegenzusetzen, Studiengebühren verstärkten die negativen Effekte eines ohnehin sozial selektiven Bildungssystems. Die Kindergarten-Argumentation ermöglicht es nun, die Befürwortung von Gebühren plakativ mit gerechtigkeitspolitischen Behauptungen und - man staune - dem Anspruch einer Umverteilung »von oben nach unten« zu verbinden. Eine sukzessiv erweiterte private Zuzahlung in den »oberen« Etagen des staatlichen Bildungssystems eröffnet gleichzeitig, so wird zumindest suggeriert, Spielräume, hier bisher gebundene Steuergelder in den so genannten Vorschulbereich nach »unten« umzuverteilen.
Die private Beteiligung an den Gesamtkosten des Vorschulbereiches ist in Deutschland mit 37,8 Prozent (2002) doppelt so hoch wie im Durchschnitt der OECD (17,8 Prozent). Damit wird systematisch soziale Ausgrenzung produziert, was sich auch auf die gesamte spätere Bildungsbiografie auswirkt. Und das wiederum ist ein Effekt, der nachgewiesenermaßen für Familien mit Migrationshintergrund besonders stark gilt.
Allerdings gibt es keinen analytisch bestimmbaren Zusammenhang zwischen der Tatsache einer Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums und der staatlichen Unterfinanzierung von Kindergärten. In diesem Umstand spiegelt sich vor allem die desaströse Finanzlage der Kommunen wieder, die hauptsächlich den öffentlichen Finanzierungsanteil des Elementarbildungsbereiches erbringen müssen.
Die unvermittelte Gegenüberstellung von Hochschulen und Kindergärten hat allerdings einen enormen ideologischen Gebrauchswert: Die Frage nach der Finanzierung der Bildung wird von der Frage der gesellschaftlichen Verteilung des Sozialproduktes entkoppelt und auf eine unmittelbare Verteilungskonkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen von BildungsteilnehmerInnenn reduziert. Die medial konstruierten »Bummelstudenten« sind in dieser Sichtweise besonders verabscheuungswürdige Geschöpfe. Zugleich wird damit ein politisch bequemes Motiv gefestigt, das darauf abzielt, die Bildungsreformen nur als »kostenneutrale« Umverteilung bisheriger Bildungsausgaben zu verkaufen.
Das Bildungssystem ist im Kontext neoliberaler Standortpolitik der zentrale gesellschaftliche Ort, an dem Konkurrenzfähigkeit durch systematisch organisierte Wissensvermittlung hergestellt wird. Dabei zeichnet sich zunehmend eine Art Arbeitsteilung ab, in welcher der staatliche Bildungssektor zunächst eine Grunddisposition an Lernbefähigung vermitteln soll, während verwertungsrelevantes »Arbeitswissen« künftig stärker durch Marktmechanismen reguliert wird.
Dies hat Konsequenzen für das ganze Bildungswesen. Damit beginnt der Wettbewerb tatsächlich bereits im Kindergarten. In den Debatten, wie sie in den so genannten Think Tanks, Sachverständigenräten und Medien bereits geführt werden, wird die vorschulische Erziehung unter dem Aspekt der Humankapitalbildung bewertet. Schon in der Grundschule sollen die entscheidenden sozialen Schlüsselkompetenzen erworben werden, die dann zum eigenverantwortlichen lebenslangen Lernen befähigen. Die weiterführenden Bildungswege nach der allgemeinen Schulpflicht, also ab der 10. Klasse, werden hingegen unter dem Aspekt der zunehmend individuellen Interessenprofilierung und beruflichen Spezialisierung gesehen. Berufliches Spezialwissen aber muss ständig »eigenverantwortlich« neu erworben werden, da es den permanenten Entwertungsprozessen der Märkte ausgesetzt ist. Damit lassen sich die Verkürzung von Bildungszeiten im staatlichen Sektor nach der 10. Klasse, der Abbau öffentlicher Finanzierung und eine marktförmigere Erschließung von Oberstufe, beruflicher Bildung und Studium durch unterschiedliche Formen privater Kostenbeteiligung legitimieren.
Studiengebühren, die Aufhebung der Lehrmittelfreiheit in der gymnasialen Oberstufe, sowie die mittlerweile ernsthaft aus dem ArbeitgeberInnenlager vorgebrachte Forderung, für die berufliche Bildung wieder das »Lehrgeld« als Äquivalent zu Studiengebühren einzuführen, sind daher unterschiedliche Aspekte ein und derselben Strategie.
Diese Strategie wird in einem vom Kieler Institut für Weltwirtschaft im Auftrag der Deutschen Bank (2003) erstellten Gutachten kurz und erfrischend deutlich zusammengefasst: »Kürzere Lebenszyklen für neues technisches Wissen erhöhen das Risiko, dass Bildung obsolet wird. Um das Produktivitätspotenzial einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung am besten auszuschöpfen, müsste die Verweildauer der Jüngeren in der ersten Bildungsphase verkürzt und das Konzept des lebenslangen berufsbegleitenden Lernens umgesetzt werden. Eine Straffung der Grundbildung könnte erreicht werden durch eine Aufwertung der Phase der Vorschulerziehung, eine möglichst frühe (freiwillige) Einschulung und die Nutzung weiterer Kürzungspotenziale.«
Torsten Bultmann ist Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Mitglied im Koordinierungsausschuss des ABS.