Der Berliner Autor und Journalist Raul Zelik hielt sich voriges Jahr sieben Monate in Venezuela auf und hat soeben das Buch Made in Venezuela. Notizen zur »bolivarianischen« Revolution veröffentlicht (siehe philtrat nr. 59). Andreas Bodden sprach mit ihm über die aktuelle Lage in Venezuela.
Wie kann man das Verhältnis der verschiedenen Faktoren beschreiben, die innerhalb der linken Bewegung in Venezuela eine Rolle spielen - Präsident Chávez, seine Partei, Teile des Militärs und die Basisorganisationen?
Da muss man historisch zurückblicken auf das Ende der Achtzigerjahre, auf den Volksaufstand, den Caracazo, die damaligen Plünderungen, die Armutsrevolte. Es entwickelten sich zwei Bewegungen. Zunächst die gesellschaftliche, die sich in Basisnetzwerken, Stadtteilorganisationen und alternativen Medienprojekten manifestiert. Dann die in der Armee. Dazu muss man wissen, dass das lateinamerikanische Militär in seiner Totalität nicht so reaktionär oder rechtsradikal ist, wie dies der Geschichtsblick manchmal vermittelt.
Diese Bewegungen sind beide Ausdruck einer Krise des politischen Systems, wobei politisches System nicht nur die herrschenden zwei Parteien meint, sondern durchaus auch die Parteien der Linken. Insofern ist der Widerspruch zwischen den Aufstandsströmungen unter den Offizieren und den Basisbewegungen gar nicht so groß gewesen. Zum Teil waren das auch Leute, die sich schon damals kannten und die schon 1992 bei den Versuchen, die Regierung zu stürzen, kooperiert haben.
Chávez kam auch aus dieser militärischen Aufstandsbewegung?
Genau, Chávez war ja derjenige, der im Februar 1992 den ersten Putschversuch geleitet hat, und da gab es im Vorfeld schon Gespräche mit linksradikalen Stadtteilorganisationen. Für heute würde ich sagen, dass sich das Verhältnis zwischen Chávez und den sozialen Organisationen und Bewegungen sehr positiv entwickelt hat. Gerade wenn man den Vergleich zu 2000 zieht, als viele Linke noch sehr skeptisch waren, weil sie meinten, Chávez zeige kein klares soziales oder linkes Profil, hat sich doch eine Menge getan.
Du schreibst in deinem Buch vom »Rätsel Chávez«. In Deutschland sehen einige Chávez sogar eher als Hindernis.
Die Meinung, Chávez sei ein Hindernis, teilt in der aktiven venezolanischen Linken mittlerweile niemand mehr. Es sind wichtige Reformen eingeleitet worden. Das Verhältnis zwischen Bewegung und Regierung ist produktiv, aber auch konfliktreich. Und insofern ist es interessant, weil es fast etwas wie eine Aussöhnung von Staat und Lokalmacht darstellt. Venezuela zeigt eigentlich, wie produktiv es ist, wenn solche autonomen oder selbstständigen Bewegungen bis zu einem gewissen Punkt mit einer Regierung auch kooperieren können.
Stimmt es, dass die Bewegung eine ganz andere Dynamik bekommen hat, seitdem der Putsch gegen Chávez von der Bevölkerung zurückgewiesen worden ist?
Es ist mit Sicherheit so, dass der Putschversuch 2001/2002 ein Bruch war, wobei er zum Teil von der Regierung ermöglicht wurde. Es gab 2001 vier Reformpakete, die die Opposition putschen ließen. Zunächst der Versuch der Regierung, die Kontrolle über das staatliche Ölunternehmen PDVSA zurückzubekommen, weil die PDVSA bis dahin quasi Privateigentum der Oligarchie war. Dazu gab es eine Bildungsreform, die armen Studentinnen und Studenten den Zugang zu den Universitäten erleichtern sollte. Es gab eine Agrarreform, die die Enteignung von Großgrundbesitz ermöglichte. Und es gab eine städtische Landreform, die die Legalisierung von Slums ermöglichte, wenn die Leute sich vorher in selbst organisierten Nachbarschaftsversammlungen zusammentaten.
Die Niederschlagung des Putsches war dann noch mal ein Katalysator, weil die Regierungsparteien dabei eigentlich keine Rolle spielten. Dies wurde wirklich von den Basisbewegungen und auch von Teilen der Armee getragen. Man kann sagen, dass diese Mobilisierung der Bevölkerung 2002 dann ein wesentlicher Punkt war, warum die Rolle der Basisorganisationen stieg und warum dann auch eine neue Dynamik eingeleitet wurde.
Welche Rolle spielt diese Basisbewegung auf dem Land und in den anderen Städten außerhalb von Caracas?
Ich habe die Landlosenbewegung im Süden des Landes ein bisschen besser kennen gelernt. Es gibt eine sehr massive LandbesetzerInnenbewegung, wobei man wissen muss, dass nur sieben Prozent der venezolanischen Bevölkerung auf dem Land leben. Es gibt sicher auch in anderen Landesteilen Kooperativen, Netzwerke, Landlosenbewegungen, ökologische Projekte; im Süden gibt es eine sehr starke neue Indigenenbewegung. Es ist bekannt, dass andere Bundesstaaten noch deutlicher hinter der Regierung stehen als Caracas. Aber man muss auch sehen, dass Caracas und drei oder vier Erdölzentren mit Sicherheit entscheidend sind für das, was im Land passiert. In und um Caracas wohnt ein Drittel der Bevölkerung Venezuelas. Es ist einfach das Gebiet, wo der politische Konflikt entschieden wird.
Welche soziale Schicht trägt die Bewegung?
Es ist die Bewegung der Zahnlosen. Auf den Oppositionsdemonstrationen sind Leute, deren Gebiss komplett ist, bei den RegierungsanhängerInnen siehst du einer ganzen Menge Leute die Armut an. Es ist sicher eine Bewegung, die von den Barrios (Stadtteilvierteln) getragen wird. Auch die Kleinbauernverbände und die Indigenenverbände haben eine Rolle gespielt, die afro-venezolanische Bewegung ebenso. Aus der Sicht von Caracas würde ich sagen, dass die Barrio-Organisationen, die alternativen Medien und die alternativen pädagogischen Netzwerke das getragen haben. Und es ist interessant, dass die Klassenzusammensetzung in den Barrios nicht so ganz eindeutig ist. Weil das territoriale Organisationsformen sind, kommen durchaus unterschiedliche Leute zusammen. Leute, die sich als StraßenhändlerInnen verdingen, manchmal auch Kleinkriminelle, aber auch untere Mittelschichten.
Welche Rolle spielt die neue Verfassung?
Die Verfassung ist nicht ausschließlich in der Verfassungsgebenden Versammlung entstanden. Ich glaube, dass die RegierungsanhängerInnen das ein bisschen übertreiben und ein bisschen schön reden, wenn sie sagen, das sei ein völlig kollektiver gesellschaftlicher Prozess gewesen. Aber es ist in vielen Orten über die Verfassung diskutiert worden, und die Wege zur Politik sind und waren sehr kurz. Die Leute in der Verfassungsgebenden Versammlung waren alle neu, aus Stadtteilorganisationen und anderen Zusammenhängen.
Die Verfassung ist ein politisch-inhaltliches Konzept des Transformationsprozesses. Da steht etwa drin, dass man sich vom Neoliberalismus lösen möchte und neue Sektoren solidarischer Ökonomie aufbauen will. Die nationale Souveränität, der Freiraum gegenüber den USA und Europa, eine Gestaltung einer eigenständigen Sozialpolitik wird sehr stark betont. Im Süden wird die Forderung nach sozialer Emanzipation immer noch sehr stark verknüpft mit der Forderung nach nationaler Souveränität. Es gibt die Indigenen-Gesetze, die von den Einheimischen auch entwickelt wurden. Diese ermöglichen den indigenen Gemeinschaften, eine weitgehende Autonomie zurückzuerlangen. Die Geschlechterproblematik wird wahrgenommen, Hausarbeit wird als Mehrwert schaffend definiert, überall wird die weibliche Form hineingeschrieben. Die Verfassung gibt Transformationsziele vor. Das ist ihre wichtige Funktion.
Das Interview erschien zuerst in der SoZ - Sozialistische Zeitung Nummer 6/2004, www.soz-plus.de.