Der Fotograf wird Stalin, Woroschilow und Molotow zu seiner Linken vorsichtig mit einem sehr feinen Skalpell aus dem Originalbild (oben) heraus geschnitten haben. Danach hat er wahrscheinlich die Schnittkanten mit dunkler Tinte bearbeitet und die verkleinerte Gruppe auf eine andere Aufnahme der gleichen Uferstelle aufgeklebt. Der neue Abzug (unten) ist eine typische Version der unzähligen Retuschen und Verfälschungen, die unter Stalins Regime unliebsame ehemalige WeggefährtInnen oder Oppositionelle aus allen historischen Dokumenten tilgten.
Der Mann, dessen Fall die nebenstehenden Bilder bezeugen, ist Nikolaj Jeschow, der als Chef des Geheimdienstes NKWD, dem Vorläufer des KGB, einer der schlimmsten »Säuberungswellen« der Stalin-Ära seinen Namen verliehen hat, der so genannten Jeschowtschina (Jeschowzeit). Er leitete die Parteisäuberung von 1933 und spielte eine wichtige Rolle bei den Schauprozessen von 1936 bis 1938. An der Spitze eines zweihundert Mann starken Exekutionstrupps war er maßgeblich an den Aktionen von 1937/38 beteiligt, bei denen rund 1,5 Millionen Menschen inhaftiert und zirka 700000 getötet wurden. Ende der Dreißigerjahre hatte Jeschow seine Schuldigkeit getan. Sein Alkoholkonsum wurde immer auffälliger, zwei NKWD-Mitglieder setzten sich in den Westen ab und es kamen Zweifel an seiner Loyalität auf. Am 2. Februar 1940 wurde er als angeblicher Spion erschossen und danach wie unzählige seiner Opfer entsprechend gründlich aus allen Aufnahmen entfernt.
Die Bilder der um Jeschow dezimierten Gruppe sind dem Band Stalins Retuschen von David King entnommen, der 1997 im Verlag Hamburger Edition erschien. King hat im Laufe von dreißig Jahren eines der größten Archive sowjetischer Originalbilder und ihrer Fälschungen angelegt. Die kleine, beeindruckende Auswahl in Kings Buch zeigt nicht nur die verschiedenen Arten der graphischen Beseitigung politischer GegnerInnen, sie belegt auch die Verfälschungen in Fotografie und bildender Kunst, mit denen Stalin idealisiert und verherrlicht werden sollte. Sie dokumentiert aber auch, wie NormalbürgerInnen mit Tusche und Schere ihre Bücher, Bilder und Privatfotos verunstalten mussten, um mit den Exekutionen Schritt zu halten und nicht in den Verdacht des SympathisantInnentums zu geraten.